Flirrende Skulpturen, rotierende Formen und Cate Blanchett, die durchs Wohnzimmer schwebt: Augmented Reality ist das derzeit heißeste Technologietool der Kunst
Auch wenn im Berliner Berghain, dem wohl berühmtesten Club der Welt, schon seit März 2020 keine Techno-Beats mehr durch die Hallen wummern, bilden sich derzeit kleine Schlangen vor dem ehemaligen Heizkraftwerk. Internationales Kunstpublikum, das eines der Tickets für die Ausstellung »Studio Berlin« ergattert hat, steht an und wischt dabei oft gelangweilt auf seinen Smartphones herum. Dabei sollte es sie lieber einmal gen Himmel halten – und sich ordentlich aufmuntern lassen. Von dem »Imaginary Friend« der New Yorker Künstlerin Nina Chanel Abney, der im Schneidersitz, mit Heiligenschein und in Tennissocken über dem Gebäude schwebt und mit sonorer Stimme daran erinnert, dass gute Dinge immer dann geschehen, wenn man auch an sie glaubt.
Erleben kann den Hipster-Weisen allerdings nur, wer die App des Londoner Start-ups Acute Art heruntergeladen hat, das auf Augmented-Reality-Kunst spezialisiert ist und sich mit Arbeiten von Kunstgrößen wie Marina Abramovic´, Alicja Kwade, Olafur Eliasson, Anish Kapoor, Ai Weiwei und eben Nina Chanel Abney in neue Dimensionen aufmacht. Gleich mehrmals war Acute Art auf der Berlin Art Week vertreten. Das ambitionierte Unternehmen, das sich selbst auch »kuratorisches Laboratorium« nennt, lotet die Möglichkeiten digitaler Kunst konsequent aus, bietet Sondereditionen rund um die ephemeren AR-Werke an und stellt sie weltweit aus.
Schließlich haben sich in den letzten Jahren immer mehr Künstler mit den Möglichkeiten von Augmented Reality beschäftigt, digitale Skulpturen um Kirchtürme gewickelt oder sie durch Straßenzüge schweben lassen, Zeichnungen über Landschaften gelegt, Räume im Nichts entstehen oder Formen wirbeln lassen. Kunst in AR boomt, Tendenz steil nach oben. Denn nicht nur die technischen Möglichkeiten, die AR bietet, die Welt jenseits physikalischer Gesetze aus den Angeln zu heben, Licht, Farben und Formen ohne Einschränkungen zu beeinflussen und zu verwirklichen, was zuvor nicht möglich erschien, sind enorm. Zugleich sind AR-Kunstwerke leicht zu handhaben. Die Materialien existieren nur digital, große Lagerflächen braucht man ebenso wenig wie aufwendige Transporte.
Neue Technologien: Zukunft der Kunst(-Welt)
Das vielfältige Potenzial neuer Technologien hat den bekannten schwedischen Kunsthistoriker und Kurator Daniel Birnbaum Anfang 2019 bewogen, seinen Posten als Direktor des Stockholmer Moderna Museet aufzugeben und sich als künstlerischer Direktor von Acute Art der Zukunft der Kunst zu widmen. Angesichts von Klimawandel, Pandemien und einer Welt, in der die Menschen weniger reisen werden, ist er überzeugt, dass AR und VR eine immer zentralere Rolle in der visuellen Kultur und im globalen Austausch übernehmen werden.
»In einer Zeit, in der wir uns in rasender Geschwindigkeit auf eine Katastrophe zubewegen, müssen wir auch in der Kunst neue Wege finden«, sagt Daniel Birnbaum. »Für Kunstinstitutionen sollte der klimatische Notstand nicht nur bedeuten, nachhaltiger zu agieren, sondern vor allem auch auf andere Weise.« Und dazu brauche es einen »neuen kuratorischen Werkzeugkasten«.
Neben der Fähigkeit neuer Technologien, geografische Distanzen zu überwinden, ist in den Augen Birnbaums auch ihr demokratisches Potenzial sehr interessant. Da niemand ein Museum oder eine Galerie betreten muss, um sie zu erleben, kann sie auch ein Publikum abseits bestehender Strukturen ansprechen und zudem eine enorme Reichweite generieren. An nur einem Nachmittag erzielte die sozialkritische 360-Grad-Doku »Omni« von Ai Weiwei, produziert von Acute Art und gelauncht von »The Guardian«, mehr als 250 000 Views.
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