Der Widerstand gegen die Macht der Algorithmen beginnt schon bei der Google-Suche, meint unser Kolumnist Jürgen Siebert.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts beklagten Kulturkritiker, dass wir im »Copy-and-paste«-Zeitalter lebten. »Copy-and-paste« stand für einen Schöpfungsprozess, bei dem digitale Inhalte neu zusammengebaut wurden, ohne originäres Rohmaterial zu erschaffen. Im Bereich der Unterhaltungsmusik könnte man dies mit dem Aufzehren fossiler Energiequellen vergleichen: In vielen Studios wurden die Soul- und Jazzschätze der 1960er und 1970er verfeuert, genauer: gesampelt und remixt, um Klangmaterial mit niedrigerem Kreativpotenzial zu erzeugen und in den Verkauf zu bringen. Nachhaltig ist diese Verkokung des popmusikalischen Erbes nicht, denn wovon sollen sich künftige Generationen inspirieren lassen, wenn keine Originalschöpfungen mehr entstehen?
Inzwischen befinden wir uns in der nächsten Eskalationsstufe des Verfalls kreativer Prozesse. Diesmal zielt die Technik nicht auf die Schöpfer, sondern auf die Konsumenten, also uns alle. Ich nenne es das »Autocomplete«-Zeitalter. Sein Ursprung deutete sich vor Jahren an, als Amazon die »Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch«-Empfehlungen einführte. Amazon war der erste Onlinehändler, der die Verkaufshistorien seiner User mit dem Ziel analysierte, das individuelle Kaufverhalten vorherzusagen und umsatzsteigernd einzusetzen.
Google installierte vor zehn Jahren die magische Autovervollständigung, die noch heute dafür sorgt, dass eine Textsuche schneller zum Ziel führt als eine sprachgesteuerte Suchanfrage. Starte ich mit »Homöopathie ist …«, ergänzt die Suchmaschine: quatsch/keine naturheilkunde/esoterik/schwachsinn/gefährlich/mumpitz … Autocomplete basiert auf der Auswertung aller Recherchen, ein technisches Verfahren, das widerspiegelt, wie viele Menschen sich wie oft über bestimmte Zusammenhänge informieren wollen. Autocomplete folgt keinen Fakten, sondern den Mutmaßungen der Masse.
Meist ist die Vervollständigung echt komfortabel. Sie birgt aber die Gefahr, dass die halbfertige Frage in meinem Kopf in eine Richtung gelenkt wird, die vielversprechend klingt, aber von meinem tatsächlichen Anliegen abweicht. Wir folgen einem Algorithmus, der verrät, was andere denken. Wer mit einer Prägung sucht, wird genau die Antworten bekommen, die sie oder ihn bestätigen. Der Weg in eine Filterblase ist geebnet.
Ich will keinen algorithmisch ermittelten Weil-Sie-diesen-Käse-mochten-liefern-wir-heute-jenen-Käse. Ich möchte selbst Neues entdecken, weil das glücklich macht.
Einige Industrien sind davon überzeugt, dass Autocomplete der neue heiße Scheiß in der Kundenkommunikation ist. Auf der IFA Berlin konnte man wieder Kühlschränke bestaunen, die ihren Inhalt täglich überwachen und Vorräte, die zur Neige gehen, auf eine Einkaufsliste packen . . . was rede ich, wir leben schließlich im Internet der Dinge: Der Kühlschrank kauft für mich ein, die Lieferung kommt noch am selben Tag per Bote. Ich frage mich, wer sich ernsthaft eine solche Funktion für zu Hause wünscht. Gibt es etwas Frustrierenderes, als täglich den gleichen Käse im Kühlschrank vorzufinden? Ich will auch keinen algorithmisch ermittelten Weil-Sie-diesen-Käse-mochten-liefern-wir-heute-jenen-Käse. Ich möchte selbst in einen Laden oder auf den Markt gehen und mich von einem vielfältigen Angebot umgarnen lassen. Ich möchte selbst Neues entdecken, weil das glücklich macht.
Doch es ist absehbar, was der nächste Meilenstein im Handel sein wird, und Amazon behauptet, es heute schon zu beherrschen: Dinge liefern, bevor wir eine Bestellung formuliert haben. Wenn’s um das nächste Kölsch in einer Kneipe am Fuße des Doms geht, lasse ich mir diesen Komfort gerne gefallen; ich weiß, dass dieser Deal nur für eine Sitzung gilt und mit einer Bierdeckelbewegung gekündigt werden kann. Im normalen Leben ziehe ich allerdings vor, meinen eigenen Willen einzusetzen. Ist das nicht eine der essenziellen Fähigkeiten des Menschen, die ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet?
Dieser Beitrag ist erstmalig am 13. November auf PAGE-online.de erschienen.
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