Für die effiziente Entwicklung einer einheitlichen Brand Experience ihrer digitalen Angebote schuf die Schweizerische Post einen Designprozess über sämtliche Fachbereiche hinweg.
Tradition trifft Moderne: Seit den ersten permanenten amtlichen Postverbindungen im 17. Jahrhundert bis zu autonom fahrenden SmartShuttels im 21. Jahrhundert hat sich die Schweizerische Post zu einem Bestandteil eidgenössischer Identität entwickelt und war als solche nie um eine Innovation verlegen. Ganz im Gegenteil: Hier, wo Tim Berners-Lee und Robert Cailliau am Cern in Genf Ende der 1980er Jahre das World Wide Web begründeten, spielen Informationstechnologie und neue Onlinedienste eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung der neuen Markenstrategie der Schweizerischen Post, denn künftig sollen alle physischen Dienstleistungen lückenlos, individuell und an jedem erdenklichen digitalen Touchpoint abbildbar und so weit wie möglich abwickelbar sein.
Doch noch 2019 lautete die ernüchternde Bestandsaufnahme in der Zentrale der Schweizerischen Post im Berner WankdorfCity-Quartier: mangelnde Markenkonsistenz an den einzelnen Touchpoints, keine einheitliche Brand Experience und deutlich zu hohe Kosten durch Reworks bei der Programmierung. Es fehlte ein konzernweites Designmanagement, um für schlanke und fachbereichsübergreifende Prozesse bei der Entwicklung digitaler Projekte zu sorgen.
Die Anfänge: Vom statischen PDF zum Living Styleguide
Am Hauptsitz der Schweizerischen Post in Wankdorf befindet sich neben dem Brandmanagement und dem Visual Design seit sechs Jahren auch ein Team von User-Experience-Experten. Zu Beginn arbeiteten sie noch mit statischen Styleguides im PDF-Format und stießen damit auf ein klassisches Problem: »Bei der Programmierung der Interfaces fühlte sich niemand wirklich verantwortlich für die Umsetzung unserer UX-Konzepte, und die Resultate entsprachen nicht immer unseren Konzepten und den Qualitätsansprüchen«, sagt Leena Majaranta, Leiterin User Experience Services bei der Schweizerischen Post.
Um Code und Design besser zu verzahnen, wechselte sie 2016 auf einen Styleguide mit HTML- und CSS-Informationen. »Damals kam Atomic Design auf und Frontify als passendes Tool, das Design und Codekomponenten zusammenbringt. So lässt sich ganz genau das Verhalten aufzeigen, das man aus UX-Sicht erzielen möchte«, erklärt Leena Majaranta. Beim Atomic-Design-Ansatz von Webdesigner Brad Frost lässt sich jede Website aus kleinsten Elementen – den namensgebenden Atomen – zusammensetzen. Diese Atome sind einzelne HTML-Elemente, beispielsweise ein Link oder ein Eingabefeld. Zusammen mit anderen Elementen entstehen daraus nach und nach vollständige Anwendungen, die man schließlich nur noch mit Bildern und Texten befüllen muss. Mit Brand-Management-Tools wie Frontify lassen sich die dazu notwendigen Living Styleguides, Media Libraries und Pattern Libraries außerdem an einem Ort vorhalten.
2018 dann entschied sich die IT in Zollikofen für eine neue Technologielösung, um bei der Webentwicklung zügigere und bessere Ergebnisse zu erzielen. Die Wahl fiel auf das JavaScript-Framework Angular. Die damalige Full-Stack-Entwicklerin und heutige Lead-User-Interface-Developerin Carla Hofer sah darin die Chance, für ein einheitliches Aussehen der verschiedenen Frontends zu sorgen: »Anstatt immer alles neu zu programmieren, wollten wir in der IT zumindest ein konzernübergreifendes CSS-Styling-Paket bieten, um ein rundum konsistentes Aussehen der Applikationen im Frontend zu gewährleisten.«
Im selben Jahr holte sich das Brandmanagement der Post CH AG einen Fachspezialisten für digitale Markenführung mit an Bord, der für einen einheitlichen digitalen Auftritt der Schweizerischen Post sorgen sollte. Der neue Brand Art Director Digital Andreas Badstöber strebte vom ersten Tag an einen engen Schulterschluss von Brand und User Experience an. »Weil ich in meiner vorherigen Position vier Jahre lang aus der UX-Abteilung heraus für das Branding gearbeitet hatte, kannte ich bereits die üblichen Hürden und wusste auch, dass man für digitale Projekte zudem immer die IT im Rücken haben muss«, erinnert sich Andreas Badstöber.
Startschuss: Mit Überzeugungskraft Vertrauen schaffen
Im August 2018 traf das Dreiergespann aus Brand, IT und UX der Schweizerischen Post zu einem Meeting in Wankdorf zusammen und beschloss, den gesamten Designprozess von Grund auf neu zu gestalten. Zu diesem Zweck wollten sie mit dem sogenannten Common Web Frontend (kurz: CWF) eine Single Source of Truth aufsetzen: Mit Living Styleguides und einer eigenen Pattern-Bibliothek sollte das CWF die zukünftige Entwicklung und Einhaltung der Styles erleichtern. »Wir legten fest, dass UX der Dreh- und Angelpunkt des Prozesses sein und dass die IT das geplante Pattern-System kontrollieren soll. Das Brandmanagement stellt die Qualität des Ganzen sicher«, erklärt Andreas Badstöber. Das bedeutete auch: Alle anderen Abteilungen der Schweizerischen Post würden über kurz oder lang den neuen Prozess übernehmen müssen.
Aber noch war nicht klar, wie man genau vorgehen und das Projekt finanzieren wollte. Bei einem weiteren, größeren Meeting im September 2018 stellte das interdisziplinäre Team sein Konzept den Führungskräften der IT-Abteilungen und dem Brandmanagement der Post CH AG vor, um auch sie von der gemeinsamen Sache zu überzeugen. Eines der Hauptanliegen dieses Meetings war es, neue Perspektiven zu eröffnen und die interdisziplinäre Zusammenarbeit als Ziel zu formulieren.
Damit diese fachübergreifende Teamarbeit gelingen kann, muss es eine vernünftige Grundlage für die Zusammenarbeit geben. Im CWF-Team basiert das Erfolgsgeheimnis für konstruktive Meetings auf der Devise »Ehrlich statt Businessfreundlich«. »Statt freundlich waren wir vor allem offen zueinander und haben unsere ehrliche Meinung geäußert. Dabei findet man dann häufig heraus, dass man ähnlich denkt, und kann das Projekt vernünftig voranbringen«, sagt Carla Hofer.
Als kleine Hürde im Vorfeld erwies sich der Fachjargon: »Wie erläutern wir unseren Plan? Wie erklärt man Laien den Atomic-Design-Ansatz und was ein Designsystem mit Components ist? Wir mussten lernen, alles so weit herunterzukochen, dass es jeder versteht«, sagt Leena Majaranta. Das gelang dem Team, denn Hofer, Majaranta und Badstöber mussten zwar noch einen Projektauftrag schreiben, aber das Budget bekamen sie zügig und hatten fortan die Freiheit, den Prozess so zu entwickeln, wie sie es in den Fachbereichen für richtig hielten. »Ohne das vorgeschossene Vertrauen unserer Vorgesetzten und den Freiraum hätte das Projekt nie so gut funktioniert. Unser Team konnte das CWF genau so aufbauen, wie wir es uns vorgestellt hatten – ohne Wenn und Aber«, berichtet Andreas Badstöber.
Analyse: Wer macht was?
Dafür musste das Team zunächst die Prozesse sowie die Rollenverteilung in den Bereichen UX, IT, Visual Design und Brand analysieren. »In langen Meetings haben wir uns sämtliche Aspekte angeschaut, die zusammen ein gelungenes User Interface ergeben, und wer dabei für was verantwortlich ist«, so Carla Hofer.
Um zu ermitteln, wer wie an welchen Projekten arbeitet, hörte sich Andreas Badstöber zunächst intensiv bei der Schweizerischen Post um und führte zahlreiche Interviews: »In einem so großen Unternehmen muss man sich zuerst einen Überblick verschaffen. Ich wollte wissen, wie die diversen Teams in den Projekten und darüberhinaus zusammenarbeiten, wie sie dabei vorhandene Tools und die Styleguides verwenden und wie das in den einzelnen Prozessen genau aussieht.« Es stellte sich heraus, dass jede Abteilung mehr oder weniger ihre eigenen Abläufe – mitunter sogar eigene Personas! – besaß, die kaum auf die der anderen Bereiche abgestimmt waren (siehe »Research-Prozess«).
In der Praxis führte das dazu, dass die getesteten und validierten UX-Konzepte sowie das visuelle Design aus der Markenführung im Endergebnis noch immer zu oft von den Vorgaben abwichen. Die umfangreiche Analyse der Tätigkeiten ergab, dass die Rolle eines User Interface Developers im Unternehmen bislang noch nicht definiert war:
»Als Post haben wir eine große IT und eher viele gute Entwickler mit ausgezeichneten Skills in ihren Fachgebieten, aber es fehlte an dem speziellen Skill-Set UI Development«
sagt Leena Majaranta. Und so durfte das Team in der IT zunächst einen, mittlerweile sogar zwei UI-Developer einstellen, die sich gemeinsam um die Programmierung von neuen Komponenten und Patterns sowie um die Pflege des Common Web Frontends kümmern.
Connect Booklet »Designmanagement bei der Schweizerischen Post«
Ergebnis: Neuer Designprozess und das Common Web Frontend
Als zentrale Abteilung des gesamten CWF-Prozesses ist die UX meist von Anfang bis Ende an der Entwicklung beteiligt: »Das ist bei mehr als 350 digitalen Projekten im Jahr unbedingt sinnvoll, denn so können Branding, UI Development und Visual Design sicher sein, dass sie rechtzeitig ins Projekt involviert werden, müssen aber nicht ständig dabei sein«, so Andreas Badstöber. Die UX-Abteilung leitet also den Prozess und holt je nach Phase die richtigen Leute dazu.
»Das Spezielle am CWF liegt nicht in der Single Source of Truth oder in den Code-Snippets. Was das CWF wirklich auszeichnet, ist der fachübergreifende Prozess, den wir zusammen entwickelt haben«
Andreas Badstöber, Brand Art Director Digital, Schweizerische Post
Jedes digitale Projekt beginnt zunächst mit der Frage, welchen Zweck es erfüllen soll und wie es sich am besten auf die Userbedürfnisse zuschneiden lässt. Dazu betreiben die UX-Experten Nutzerforschung, konkretisieren die Useranforderungen und erstellen Prototypen, die sie dann mit echten Nutzern systematisch testen und evaluieren. Die Erkenntnisse fließen anschließend in das UX-Konzept ein. Als Nächstes prüfen User Experience und Markenführung, ob sich das Projekt mit vorhandenen Patterns der Post CH AG abwickeln lässt oder ob sie einen UI Developer beauftragen müssen, der schnell ein passendes Frontend realisiert. Letzteres sei meistens der Fall, meint Carla Hofer: »Im nächsten Schritt setzen UI-Developer, UX-Konzepter und Visual Designer direkt einen HTML-Prototyp auf, den sie dann gemeinsam iterieren.« Weil man im Code keine statischen Layoutvorlagen benötigt, übernimmt der Visual Designer in dieser neuen Konstellation die Rolle des Art Directors und vermeidet so Mehrfacharbeit.
Diese so erstellten HTML-Dummys haben außerdem noch den Vorteil, dass man bereits sämtliche Funktionsweisen und das Verhalten der Elemente auf den verschiedenen Endgeräten im normalen Browser verfolgen und schnell anpassen kann. »Das Beste ist, dass sich der fertige Code einfach ins Projekt einbinden lässt und damit die Anwendung bereits komplett steht«, erklärt Carla Hofer. Schon mehr als hundert Projekte hat das Team bei der Schweizerischen Post in dem neuen Prozess umgesetzt, darunter eine neue App für die Sendungsvorankündigung, mit der Kunden Paketauslieferungen steuern können, sowie die Demo-App der IT-Abteilung, die den Entwicklern seither als Dokumentation des Common Web Frontends dient.
Implementierung: Demo-App und Roadshow
In ihrer Demo-App erarbeiten die UI-Developer alle Komponenten und stellen sie auf jeweils einer eigenen Unterseite mit den zugehörigen Codeschnipseln vor.
»Die Entwickler sind grundsätzlich froh, wenn sie sich keine Sorgen um das Styling eines Buttons machen müssen, sondern sich das fertige Element als Code Snippet einfach in ihre Applikation kopieren können«
so Carla Hofer. Die Demo-App erspart ihnen die langwierige Suche nach dem richtigen Code im umfangreichen Styleguide.
Den CSS- und JavaScript-Code des CWF können die Entwickler ganz einfach als Styling-Paket installieren, sodass es in jedem Webprojekt bereits vorgeladen ist. Diese Vorlagen zeigen den Developern dann beispielsweise alle Zustände, die ein Button haben kann, sowie mögliche Hintergründe und Animationen. Ist das Styling-Paket einmal installiert, genügt also Copy-and-paste von HTML. Verantwortlich für die Pflege der Demo-App sind alle UI-Developer gemeinsam. »Die Demo-App ist eine Ressource für Entwickler, die genau wissen, was sie brauchen, weil sie sich zusammen mit den UX-Konzeptern und Visual-Designern das Konzept angeschaut haben und es nur noch entsprechend umsetzen müssen«, erklärt der neue User Interface Developer Philipp Gfeller.
Noch sind das CWF und die Demo-App nicht offiziell ausgerollt, da letzte Optimierungen an den Styling-Paketen notwendig sind. Dennoch können Developer bereits jetzt damit arbeiten, und das Team plant für das erste Quartal 2021 eine Roadshow durch sämtliche relevanten Abteilungen der Schweizerischen Post. »Damit alle betroffenen Mitarbeiter den neuen Designprozess verstehen und davon Gebrauch machen, werden wir die Fachteams besuchen und nach Ansprechpartnern Ausschau halten, ausgerüstet mit illustrativen A1-Postern, die den neuen CWF-Prozess erklären«, so Andreas Badstöber.
An den Standorten Wankdorf, Zollikofen und Bellinzona – wo alles begann – hängen die Poster schon, sodass sich die Kollegen dem neuen Prozess langsam annähern können. Das Team ist überzeugt davon, dass dieser schon jetzt den Entwicklungsprozess an vielen Stellen verkürzt und dass die Schweizerische Post dadurch auch schneller und kostengünstiger neue digitale Projekte umsetzt – und das mit einer einheitlichen Brand Experience an allen Touchpoints.
Research-Prozess
Design Doing – Design Thinking – Design Being
Bevor er daranging, einen neuen Designprozess für die Schweizerische Post zu entwerfen, musste sich Brand Art Director Digital Andreas Badstöber zunächst einen genauen Eindruck von der Lage im Konzern verschaffen. Also führte er zahlreiche Interviews und versuchte die bisherigen Gestaltungsprozesse zu verstehen. Zudem führte er bei seinen Recherchen mehrere sogenannte Design-Maturity-Tests durch, um zu erfahren, wie die Mitarbeitenden den Stand von Design im Unternehmen wahrnehmen. Dazu teilte er alle Designaktivitäten der Schweizerischen Post nach einem Modell des Designforschers Jan-Erik Baars in die Kategorien »Design Doing«, »Design Thinking«und »Design Being« auf und wertete die Interviews danach aus:
Während es beim Design Doing und Design Being schon gut aussah, fehlte es noch am gemeinsamen Design Thinking, auf das sich verschiedene Personen aus unterschiedlichsten Bereichen einigen müssen. So schlüpfte Badstöber während des Prozesses aus seiner Rolle des Designers mehr und mehr in die eines Beraters und Diplomaten, der zwischen den Abteilungen vermittelt und sich Mitstreiter sucht, um Silos aufzubrechen. »Wenn so ein Projekt die Aufgabe einer einzelnen Person wäre, dann wäre es ganz sicher zum Scheitern verurteilt«, so Andreas Badstöber. Aber der Designer traf mit seinen Plänen bei der Schweizerischen Post stets auf Gehör und konnte das Projekt mit dem CWF-Team entsprechend schnell und problemlos vorantreiben.
So läuft der CWF-Prozess ab
Jeder Common-Web-Frontend-Prozess startet mit einem Project Request. Wird die Prozessanfrage angenommen, setzen sich UX Design, Brandmanagement und Visual Design zusammen, um mit verschiedenen Tools ein UX-Konzept zu erarbeiten und es so lange zu iterieren, bis es umsetzungsfähig ist. Danach folgt der Pattern-Check: Liegen die nötigen Komponenten im CWF vor, geht das Konzept in die IT. Dort erstellt das Scrum-Team aus den Patterns ein neues Interface. Das UX-Team ist involviert und verantwortet den Austausch zwischen Brandmanagement, Visual Design und UI-Entwicklung. Zum Schluss aktualisieren die Programmierer, wenn nötig, das CWF und veröffentlichen die Applikation.
Connect Booklet »Designmanagement bei der Schweizerischen Post«