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Schauplatz Körper

Für das Fantasielabel „Grow on you“ experimen­tierte das niederländische Künstlerduo Lucy and Bart mit Wasch­mittelschaum und Lebensmittelfarbe.

Oben: Dem Fitnesswahn setzen die beiden mit „Evolution“ Luftballons als Muskeln, gehalten von Strumpf­hosen, entgegen
Unten: Lucy and Bart klebten bei „Exploded View“ eine digitale Explosion auf dem Körper nach.

Ist das noch ein Fashion-Shooting oder bereits eine Kunstperformance? Dass der Körper als Medium für Installationen genutzt und künstlerisch bespielt wird, ist nicht neu. Das Spannen­de an den aktuellen Beispielen besteht vielmehr darin, dass die Grenzen zwischen vormals abgesteckten Genres zunehmend verwischen. Verschiede­ne kulturelle Ausdrucksformen – von Fashion über Architektur und Kunst bis Musik – verstehen es, den Körper spielerisch in Szene zu setzen. Als Austragungsort nutzen sie neben Filmen oder Bühnenperformances vor allem auch die Fotografie. Besonders unbekümmert geht das Duo Lucy and Bart (www.lucyandbart.com) dabei vor. Lucy McRae and Bart Hess trafen sich als Trendforscher bei Philips Design in Eindhoven. Ihre Zusammenarbeit begann, als sie nach ei­nem anstrengenden Arbeitstag Frust und Kreativität entladen muss­ten: „Wir haben mit Bürogegenständen gespielt und sie im Gesicht befestigt. Seitdem tref­fen wir uns immer freitags, um alles auszuprobieren, was während der Arbeitswoche nicht erlaubt ist. Da müs­sen wir uns weder um das Budget noch um Einschränkungen durch den Kunden scheren“, sagt Bart Hess. Seither werkeln sie mit verschiedensten Utensilien, verteilen sie kunstvoll auf ihren Körpern und fotografieren diese Ins­tallationen dann. Ihre „Evolution“-Serie lässt sich als groteske Antwort darauf deuten, wie die westliche Gesellschaft den Kör­per durch künstliche Eingriffe wie bei­spiels­weise Schönheitsoperationen formt. Lucy and Bart blähten Schultern, Rücken und Arme passend zum Fitnesswahn mit über­dimensionierten Muskeln aus Luftballons auf. Gehalten wird diese Konstruktion durch hauchfeine Damenstrumpfhosen, um zu zeigen, wie fragil diese Art der Körperdefini­tion letzten Endes dennoch ist. Inspiration finden Lucy and Bart in den Dingen des täglichen Lebens, das Material im Super- oder Baumarkt. Dann testen sie, wie weit sie das Spiel mit komisch geformten Haken, Plastikgegenständen oder diver­sen Sprays ausreizen können. „Es ist spannend zu sehen, wie Material sei­ne Erscheinung und seinen ursprüngli­chen Zweck komplett verändert, sobald wir selbst den Körper und die Ober­fläche liefern.“ Aber auch ein Bild kann ein Ausgangspunkt für eine Installation sein, wie bei der Fotoserie „Exploded View“. „Wir sa­hen eine schöne digitale Explosion auf einer Website und wollten ­die­se mit Papier nachstellen“, erzählt Bart Hess. Dafür klebten sie ein Stück Papier auf den Körper und ergänz­ten spiralförmig weitere Schnipsel. „So erzielten wir einen Bewegungs­effekt in einem stati­schen Fo­to“, sagt Hess. Ganz ohne Photo­shop: „Das Material soll für sich sprechen.“ Das Ergebnis gleicht wild durcheinanderschie­ßen­den, aber in der Momentaufnahme erstarrten Papier­par­ti­keln, die sich symmetrisch fort­zu­be­wegen scheinen. Und so flüch­tig wie die Explosion existiert auch die Kunst am Körper lediglich für die Dauer der Aufnahmen. „Ein Objekt oder ein Material funktioniert für uns, wenn es eine Geschich­te erzählt oder eine eigene Atmosphäre kreiert“, erklärt Bart Hess. Die beiden versuchen aber gar nicht erst, diesen Prozess aktiv in eine Richtung zu lenken. Stattdessen erlauben sie sich absichtlich Fehler, um neue Möglich­kei­ten des Materials zu erkunden – immer in Kombination mit dem Körper. Es ist wichtig, flexibel zu bleiben, findet Bart. So kann das Ergebnis ei­nes Experiments das Konzept eines Shoo­tings komplett verändern. Ein Beispiel dafür ist ihre Arbeit „Grow on you“. Für dieses Fantasielabel sollte die Mode auf dem Körper wachsen: „Halb Mensch, halb Tier, reproduziert es sich selbst und besitzt keinen Markennamen. Es wächst unterschiedlich dicht und zäh, es lebt und atmet mit uns.“ Für diese an Bio-Art erinnernde Kör­perinstallation experimentierten Lucy and Bart mit Waschpulver und Lebensmittelfarbe. Nach verschiedenen Tests fanden sie das Waschmittel, mit dem sich die beste Schaumdichte zum Modellieren erreichen ließ. Um die hierfür erforder­lichen Schaum­massen in großen Mengen zu produzieren, bastelten sie eine Konstruktion aus Eimern, einem Pürier­stab und warmem Wasser. In Verbindung mit der Lebensmittelfarbe, die ­ei­ne andere Konsistenz hatte, entstanden Schaumberge, die über­ra­schende Farbverläufe aufweisen. „Da der Schaum immer tropfte, fangen die Bilder genau einen Moment ein“, so Bart Hess.vd

Bild links: Lucy and Barts „Germination“ als Selbstversuch mit Graswurzeln, zu Beginn
Bild rechts: und nach acht Tagen


Architektonische Verformungen

Statt Catwalk-Show präsentiert ein Clip Gareth Pughs aktuelle Kollektion (Regie: Ruth Hogben)

Erkunden Lucy and Bart die Schnitt­stelle von Körper und Technologie, so setzt Gareth Pugh (www.garethpugh.net) dem Körper mit architektoni­schen Verformungen zu. Für seine Herbst/Winter-Kollektion 2008/2009 zwängte der Shootingstar der Fashionwelt die Models in dunkle, dreidimensional gezimmerte Polygonformen, die wie eine Mischung aus Ritterrüstung und futuristischer Wabenarchitektur anmuten. Modekritiker bescheinigen seiner Mode „dunkle Euphorie“. Pugh ist der düs­tere Prinz des Architektur-Cosplay, der seine ganz schön martialisch wirkende Kollektion selbst als eine Ver­sion von „Dorothy aus ,Wizard of Oz‘ trifft auf ,Predator‘“ bezeichnete. Seine Entwürfe setzt der Brite nicht mehr nur auf dem Laufsteg in Szene (siehe PAGE 09.09, Seite 30 ff.) – vielmehr präsentiert er sie in multimedia­len Bil­der­ga­lerien und Clipinstallationen, die Nick Knights ShowStudio (www.showstudio.com) entwickelt. „Dazed & Confused“ zeigte die Herbst/Winter-Kollektion 2008/2009 als atmo­sphärische Schwarzweißinszenierung, fotografiert von Nick Knight mit Ga­reth Pugh als Kreativdirektor. Gemeinsam mit Regisseurin Ruth Hogben ist dabei der Webclip „Insensate“ (www.show studio.com/project/insensate) entstan­den. Auf den Stills tummeln sich dunkle Gothic-Wesen in einem ver­wun­sche­nen Märchenwald, wobei die Regisseure den Hintergrund spiegelten und Blätter und Zweige dicht um die Models herumcollagierten. Dadurch gera­ten die Bilder zu bedeu­tungs­schwan­ge­ren Stimmungsstücken, in de­­­nen der Körper sich in ein silhouettenhaf­tes Ge­bilde verwandelt, das sich in der Natur aufzulösen scheint. Ein Jahr später verzichtete Gareth Pugh sogar ganz auf den Catwalk und führte seine Herbstkollektion 2009 als Perfomancefilm auf der Leinwand vor. In einer Synthese aus Installation und Modeshooting inszenierte Ruth Hogben die Models vor weißem Hintergrund, multiplizierte sie und spiegelte die Bildfläche wie zuvor bei „Insensate“. Die neue Kollektion wendet sich ab von starren Polygonformen zuguns­ten luftig-zarter und dabei streng symmetrischer Gebilde. Dementsprechend setz­te die Regisseurin im Hintergrund neben dem reinen Weiß auch ätherisch-flüchtige Farbschlieren ein. Davor ließ sie die Models auf ei­nem Laufband schreiten oder über ei­nem Gebläse stehen, damit das Volumen der Kleider und ihre Ausdehnung im Raum zur Geltung kommen.


Gareth Pughs Modekollektion als düsteres Spektakel im Zauberwald. Die Strecke fotografierte Nick Knight für „Dazed & Confused“ (Issue #66). Das Styling übernahm Katie Shillingford


Inneres nach außen gekehrt


Johan Renck fotografierte Karin Dreijer Andersson alias Fever Ray als würdevolle, aber verwundbare Stammes­priesterin. Die Idee stammt von Filmemacher Andreas Nilsson

Wo das Verschleiern des Körpers bei Gareth Pugh letztlich auf die schöne Hülle verweist, verhüllt und maskiert die schwedische Musikerin Karin Dreijer Andersson sich, um ihr Innenleben zum Ausdruck zu bringen. Bei ihrem Elektro-Soloprojekt Fever Ray dient der eigene Körper als Austragungsort für kom­plexe Gefühlslagen. Die Shootings dienen in ihrer kalkulierten Inszenierung zunächst der Imagebildung von Fever Ray. Zugleich gewährt die Mu­sikerin sehr viel Einblick in ihre Per­­sönlichkeit und zeigt sich verwundbar. Karin Dreijer Andersson stilisiert sich als gestrenge Rich­terin in pechschwar­zer Robe. Über das halbe Gesicht sind die Zähne eines Totenschädels gemalt, ähnlich den rituellen Gesichtsbemalungen zum Día de los Muertos in Mexiko. Das wirkt furchteinflößend, gewährt aber auch einen tiefen Einblick in ihr Inneres. Konzipiert hat die Fotostrecke der Berliner Fotograf Yves Borg­wardt im Auftrag von „Spex“. „Karin Dreijer Andersson verarbeitete darin Ängste und trau­mati­schen Erfahrungen wäh­rend ihrer Schwangerschaft“, erzählt er. Es ging ihr um das ambivalente Verhältnis zum eigenen Kind, das der Frau gesellschaftlich nicht immer zugestanden wird. Mit der Inszenierung als Rich­te­rin klagt sie umgekehrt an und fragt: „Wer darf sich zum Richter über andere aufspielen und sie kritisieren?“ Die neueste Fotoserie für Fever Ray realisierte der frühere Popsänger und heutige Filmemacher und Fotograf Johan Renck (www.raf.se): Dort ist Karin Dreijer Andersson als amulettbehangene Stam­mespriesterin zu sehen, die sich würdevoll und doch sehr privat darstellt und dabei ihr Gesicht durch Fantasiebemalung verfremdet. Statt sich der Kamera direkt zu präsentieren, zieht sie sich gebeugt zurück, den Kopf nach unten geneigt oder von der Kamera weggedreht. Damit gelingt ihr der Spagat zwischen Zurschaustellung und Preisgabe. „Karin Dreijer Andersson sucht immer nach Wegen, ihre Per­sönlichkeit zu verschleiern. Sie möch­te nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, aber doch im Bild sein. Obwohl es ihr unangenehm ist, fotografiert zu werden, offenbart sie eine Menge von sich. Auf der eine Seite hält sie den Betrachter auf Distanz, auf der an­deren zeigt sie Verletzlichkeit durch ihre Präsenz und ihre Körpersprache. Allerdings setzen das Make-up und die Kostüme zugleich viele Filter davor“, er­klärt Johan Renck. Das der Bildserie zugrundeliegen­de Konzept entwickelte Karin Dreijer Andersson gemeinsam mit Andreas Nilsson, der neben dem Erscheinungsbild von Fever Ray auch die Musikclips, Tour-Visuals und T-Shirts gestaltet. „Für das Kostüm und die Gesichtsbemalung haben wir mit Theaterspra­che in ei­nem Popkontext experimentier­t. Die Inspi­ra­­tion kam von al­­ten Dokumentarfilmen über Stämme in Papua-Neuguinea, von Indianern, Schamanen aus Grönland und von Streetgangs wie den Bloods und Crips in Los Angeles“, erzählt An­dreas Nilsson. Der Körper wird zum Schauplatz einer wilden Popmystik, um eine Aura des Geheimnisvollen herauf­zubeschwören. Natürlich erstrecken sich diese In­sze­­nierungen auch auf die Musikclips von Andreas Nilsson – mit verwun­sche­nen Orten und Stammesmasken sowie Live-Darbietungen –, in denen Karin Dreijer Andersson mit Gesichtsbemalung im diffusen Dunkel auf der Bühne steht, umgeben von grünen Laserstrah­len. Dazu Nilsson: „Unsere Idee war, dem Publikum Deutungswerkzeuge an die Hand zu geben. Die Konzerte se­hen wir definitiv als rituelle Performan­ces.“ Es bleibt spannend zu beobachten, in welche Richtung sich Karin Dreijer Anderssons Körperinszenierungen weiterentwickeln.

Eindringliche Düsternis strahlt Fever Ray als strenge Richterin aus. Das Konzept für die Bildstrecke entwickelte der Berliner Fotograf Yves Borgwardt für „Spex“ (Artdirektion: Mario Köll)

(Diesen Artikel finden Sie in Heft PAGE 10.2009)

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