Die Sentinel von Hoefler & Frere-Jones ist eine Slab Serif, die sich für Text- und Displayanwendungen einsetzen lässt.
Die Sentinel von Hoefler & Frere-Jones ist eine Slab Serif, die sich für Text- und Displayanwendungen einsetzen lässt
Ob sie nun Slab Serif, Egyptienne oder serifenbetonte Linear-Antiqua heißen – Schriften mit dicken, plakativen, meist eckigen Serifen liegen im Trend. Machten sie sich zunächst auf zahlreichen Websites breit, sieht man sie jetzt immer häufiger auch im Editorial Design, in Anzeigen und auf Plakaten. Sie bringen einen frischen Look in typografische Gestaltungen und stellen eine angenehme Alternative zu den nach wie vor tonangebenden Serifenlosen dar.
„Slab Serifs bilden eine so riesige Kategorie, da lässt es sich schwer sagen, ob sie wirklich modisch sind”, meint Jonathan Hoefler. „Das ist fast so, als würde man fragen, ob Blau gerade trendy ist – denn irgendein Blau ist ja schließlich immer modern.” Er glaubt vielmehr, dass Designer, die durch die Serif-oder-Sans-Schule gegangen sind, plötzlich diesen dritten Weg entdecken und sehen, wie nützlich eine gute Slab Serif sein kann. „Slabs sind so vertraut wie gewöhnliche Serifenschriften und dadurch in Fließtexten gut zu gebrauchen. Geichzeitig kann man sie in extremen Größen setzen, was sie so vielseitig wie eine Sans macht.”
Allerdings sind viele Slab Serifs zwar attraktiv und populär, aber nur begrenzt einsetzbar, weil sie zum Beispiel keine Kursiven haben oder weil sie in kleinen Graden nicht funktionieren. Deswegen entschieden sich Jonathan Hoefler und Tobias Frere-Jones (www.typography.com) mit der Sentinel eine Slab Serif zu entwickeln, die unbelastet von sämtlichen Traditionen frischen Wind in diese Schriftgattung bringt.
Mit insgesamt zwölf Schnitten deckt die Sentinel das ganze Anwendungsspektrum von Text bis Display ab. Die Fontfamilie kostet rund 200 US-Dollar (www.typography.com). Dank des moderaten Strichstärkenkontrasts können Buchstaben wie a und g ihre traditionelle Form beibehalten. Die horizontalen Linien der Sentinel sind verhältnismäßig dünn. Das sorgt für mehr Weißraum innerhalb der Buchstaben und lässt Texte größer wirken, als sie eigentlich sind
Bei den Ziffern schufen Jonathan Hoefler und Tobias Frere-Jones eine dritte Variante: die short-ranging figures. Diese haben geringere Ober- und Unterlängen als Mediävalziffern, nehmen aber dennoch den Rhythmus der Kleinbuchstaben auf. Klassische Versalziffern enthält die Sentinel natürlich auch
Vor rund 200 Jahren entstanden in England die ersten Slab-Serif-Typen als eine Art Kuriosität. Sie sollten als Eyecatcher in der Buchtypografie fungieren und wurden schon bald ziemlich häufig in Akzidenzen eingesetzt. Eines der frühesten Beispiele – mit den charakteristischen monumental wirkenden Serifen – hieß Antique. Sie stammte aus der Hand des Londoner Schriftschneiders Vincent Figgins (1766–1844), der sich dabei von den klassizistischen Drucktypen Firmin Didots (1764–1836) inspirieren ließ. Unter dem Namen Antique wurden all die Slab Serifs populär, die über einen gewissen Strichstärkenkontrast verfügten, sodass die horizontalen Linien dünner bleiben konnten als die vertikalen. So ließen sich auch Kleinbuchstaben in extremen Stärken zeichnen, ohne dass die Versalien an Charakter verloren. Ein Cousin der Antique ist die Clarendon, die zusätzlich zu den ausgeprägten Serifen auffällige Tropfen besitzt und deutliche Merkmale der Antiquaschriften aufweist. So funktionierten die Clarendons zwar gut in kleinen Graden, ließen sich für Fließtexte aber nur bedingt nutzen, da – wie auch bei der Antique – in der Regel die Kursiven fehlten.
Geometrische Slab Serifs, die Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Bauhaus aufkamen, wirken konstruiert. Ihr versales O gleicht einem perfekten Zirkel. Typisch ist die gleiche Strichstärke von Horizontalen und Vertikalen – gut zu sehen beim großen H. Geht die Strichstärke jedoch über ein gewisses Maß hinaus, ist es quasi unmöglich, passende Kleinbuchstaben zu entwickeln. Die komplexe Struktur von Lettern wie a, e oder g würde ab einer bestimmten Strichstärke einfach zulaufen. Dementsprechend eignen sich geometrische Slab Serifs nicht wirklich gut für kleine Grade. Die Bezeichnung Egyptienne geht übrigens zurück auf die Ägyptomania, die nach Napoleons Ägyptenfeldzug in Europa aufkam. Außerdem soll eine der ersten dieser Schriften eigens für eine Ausstellung ägyptischer Kunst entworfen worden sein.
An diese klassischen Vorbilder lehnt sich die Sentinel zwar an, sie haucht dem etwas altbackenen Stil aber Eleganz und Modernität ein. Mit ihren zwölf Schnitten – Light, Book, Medium, Semibold, Bold und Black, jeweils mit passender Kursive – eignet sie sich sowohl für Text- als auch für Displayanwendungen. „Slab Serifs haben oft eine Größe, in der sie am besten aussehen”, erklärt Jonathan Hoefler. „Diejenigen, die in Displaygrößen eine gute Figur machen, sehen in kleinen Graden ungelenk aus, zum Beispiel wenn ihr Design zu geometrisch ist. Umgekehrt wirken für Textgrößen gestaltete Slab Serifs etwas eigenartig, wenn man sie stark vergrößert. Bei der Entwicklung der Sentinel war uns von Anfang an wichtig, dass sie sich in allen Größen wohlfühlt.”
Um dieses Ziel zu erreichen, gaben die New Yorker Typedesigner ihrer Fontfamilie einen moderaten Strichstärkenkontrast, der Buchstaben wie a und g erlaubt, ihre traditionelle Form beizubehalten. Vor allem an Stellen, an denen die Striche sich einander näherten, passten sie die Stärke individuell an. Auf diese Weise bekommt jeder Buchstabe eindeutige Grenzen und sieht in großen Graden knackig, in kleinen klar aus. Die horizontalen Linien der Sentinel sind verhältnismäßig dünn. Das sorgt für mehr Weißraum innerhalb der Buchstaben und lässt Texte darüber hinaus größer wirken, als sie eigentlich sind.
Innovativ zeigte sich Hoefler & Frere-Jones bei der Gestaltung der Zahlen. Mit den normalerweise zur Verfügung stehenden Versal- oder Mediävalziffern war das Duo nicht zufrieden: „Seit es Slab Serifs gibt, werden sie von Versalziffern begleitet”, erklärt Jonathan Hoefler. „Aber in Texten können sie ganz schön auffallen und das Schriftbild stören.” Mediävalziffern kamen allerdings als Alternative nicht infrage, weil sie in Slab Serifs veraltet aussehen und in großen Graden nicht funktionieren. Also schufen die beiden Designer kurzerhand eine dritte Variante: die short-ranging figures. Diese haben geringere Ober- und Unterlängen als Mediävalziffern, nehmen jedoch den Rhythmus der Kleinbuchstaben auf. Sie lassen sich über das OpenType-Feature „Proportional Oldstyle” auswählen, klassische Versalziffern gibt es natürlich auch.
Ein Dorn im Auge war Jonathan Hoefler und Tobias Frere-Jones, dass moderne Schriften zwar Akzente für viele europäische Sprachen enthalten, aber eben nicht für alle. „Wichtige Sprachen wie zum Beispiel Türkisch, das immerhin rund 50 Millionen Menschen sprechen, werden oft ignoriert. Oder auch Katalan, obwohl es viel verbreiteter ist als beispielsweise Dänisch.” Und da OpenType-Fonts ja quasi grenzenlos sind, was die Menge der integrierbaren Zeichen angeht, begann Hoefler & Frere-Jones 2005 damit, die Spezifikationen für auf dem lateinischen Schriftsystem basierende Zeichensätze zu überprüfen und gegebenenfalls auch zu erweitern. Ein Ergebnis ihrer Forschungen ist das sogenannte H&F Latin-X Character Set, mit dem sie ihre Fonts exklusiv ausstatten und durch das diese die Sprachen Zentral- und Osteuropas sowie Afrikas weitestgehend abdecken.
Das Magazin „Texas Monthly” setzt seit Neuestem die Sentinel ein. Ganz im Sinne von Hoefler & Frere-Jones findet die Type sowohl in Headlines als auch im Fließtext Verwendung
Anders als viele H&F-Schriften entstand die Sentinel nicht im Auftrag eines Kunden – sie muss ihre Anwender selbst finden. Einen gibt es schon: „Texas Monthly“, die als eine der bestgestalteten Zeitschriften der USA gilt, setzt seit Kurzem die Sentinel ein – ganz nach Vorstellung von Jonathan Hoefler und Tobias Frere-Jones für Text und Display. Auch auf der Website macht sie eine gute Figur. Die Typedesigner sehen für die Sentinel vielfältige Möglichkeiten: Magazine, Bücher und Kampagnen, aber auch Online-Anwendungen. „Denn für eine Familie mit Print-Pedigree, also für eine Schrift, die ihre Wurzeln in der Printgestaltung hat, funktioniert sie am Bildschirm ausgeprochen gut. Wir finden, sie ist eine erfrischende Alternative zu den humanistischen Serifenlosen, die nach wie vor überwältigend oft im Web auftauchen”, so Hoefler.
Der Name der Schrift hat übrigens nichts mit dem US-Thriller „The Sentinel” zu tun. Vielmehr hat der Name seine Wurzeln in der amerikanischen Zeitungsgeschichte, in der es reichlich Blätter mit dem Namen „Sentinel” gab (im Deutschen bedeutet dies „Wächter” oder „Hüter”). „Dass der Name dann auch noch ein Versal-S und ein gemeines t enthält – zwei typische Buchstaben der Schrift – machte ihn unwiderstehlich”, schmunzelt Jonathan Hoefler. Ob Web oder Print, klein oder groß – die Sentinel-Familie kann überzeugen. Das haben die beiden Typedesigner wirklich drauf: einen Klassiker in eine moderne, heutigen Bedürfnissen angepasste Schrift zu verwandeln. Ganz ohne Hokuspokus, dafür mit sehr viel Recherche, Ausdauer und Gespür für Details.
(Diesen Artikel finden Sie in PAGE Heft 10.2009)