Für viele Kreative ist Zeit einer der wichtigsten Faktoren, um wirklich originell zu sein — und das in einer Welt, in der nahezu alles an Geschwindigkeit gewinnt. Denn ohne ausreichend Zeit leidet die Qualität, so die allgemeine Auffassung. Das stimmt nicht ganz. Man muss nur die vorhandenen Möglichkeiten erkennen und sie richtig nutzen.
Wie fühlt sich Zeit eigentlich an? Philosoph Rüdiger Safranski beschreibt »Langeweile« als das nackte Erleben von Zeit. Ein Zustand, der in unserer digitalisierten Welt beinahe ausgelöscht wird. Denn der ständig mögliche Zugriff auf Informationen und Ereignisse verwandelt Zeit für viele in ein Gefäß, das gefüllt werden will. Das Verlangen nach »doch noch etwas mehr«, kratzt nervös an der Oberfläche jeder freien Minute. Und die digitale Welt liefert 24/7. Die Folge: Wir müssen heute schneller kreativ sein, um hyperindividuelle Antworten zu bieten, an die sich unsere Gesellschaft schon längst gewöhnt hat.
Kreativität und die Zeit — ein Zusammenhang, der ignoriert wird
Woher soll mehr Zeit kommen, wenn alles immer schneller wird? Und wie viel Zeit reicht eigentlich aus, um wirklich kreativ zu sein? Aus meiner Sicht wird der schöpferische Vorgang heutzutage durch den ständigen Informationsfluss so stark verformt, dass wir mit herkömmlichen Denkweisen nicht mehr lange auskommen. Wir erlebten in den letzten Jahren hautnah, wie sich fest eingelebte Rhythmen oder Abläufe von heute auf morgen verändern. Der Druck auf das altbewährte Zeit-System wächst. Doch »mehr Zeit« gibt es nur dann, wenn wir den Kreativprozess in seinen Vorgängen neu betrachten und ihn klug mit zeitgemäßen Möglichkeiten verknüpfen. Tun wir das nicht, werden wir überrollt und beschweren uns nach wie vor über zu wenig Zeit.
Nachfolgend drei Thesen, wie wir trotz weniger Zeit viel Kreativität erreichen können:
1. Daten als Katapult: schneller passgenau
Aktuell ist es oft noch so, dass Kreativität in einer subjektiven und stark intransparenten Blase entsteht — was weder zeitgemäß noch zeitsparend ist. Und dennoch bleibt das schützende Blocken vor zu viel Schnelligkeit und äußeren Einflüssen für viele die einzige Lösung. Das ist nachvollziehbar, aber nicht nachhaltig.
Bei mittlerweile 4,5 Milliarden Internet- und 4 Milliarden aktiven Sozial-Media-Nutzern, ist offensichtlich, welchen Einfluss die digitale Welt heute auf den Kreativprozess hat und welches zeitsparende Potenzial die in ihr entstehenden Daten haben. Diese Daten sind aus meiner Sicht eine essenzielle Ressource, die helfen kann, schneller ein tieferes Verständnis zu erlangen, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen und schlussendlich für zukünftige Projekte und Handlungen zu lernen. Doch die Angst vor Daten bremst. Bunt und laut kann jeder. Kreativität auf den Punkt und das innerhalb von sehr kurzen Zeiträumen, können bald nur noch diejenigen, die Daten selbstbewusst nutzen, um sie experimentell in den Kreativprozess zu integrieren.
Dabei spreche ich nicht von nackten Zahlen. Daten spiegeln in Echtzeit Verhaltensweisen und ungefilterte Reaktionen und helfen uns so, schneller ein tiefes Verständnis zu erlangen, das in echten menschlichen Bedürfnissen verwurzelt ist. Das tut oft weh, hilft allerdings, den Nagel auf den Kopf zu treffen. Auch den iterativen Prozess — der Grundstein für kreative Produkte— können wir in seinen Reflexionsschleifen durch echte Meinungen und belegbare Fakten unterfüttern. Indem wir unsere Egos parken und »unfertige« Ideen in kürzeren Rhythmen testen. So sind wir in der Lage, Ideen entlang der sich fast täglich verändernden Bedürfnisse mit ausreichender Geschwindigkeit zu optimieren.
2. Der richtige Modus: durch Achtsamkeit Zeit sparen
Heute lässt sich bereits beinahe alles auf Knopfdruck liefern oder mit einem simplen Swipen im Sekundentakt zwischen unzähligen neuen Inhalten wählen. Muss Kreativität deshalb jetzt auch auf Knopfdruck funktionieren? Ja! On demand ist heute nicht mehr nur ein trendiger Slogan. Der Gedanke ist Teil unserer Kultur geworden.
Eine weitere Lösung ist daher der Mensch und sein Denkvermögen. Wie schaffen wir es beispielsweise schneller in den richtigen kognitiven Modus zu gelangen? Indem wir unser Gehirn trainieren. Dazu müssen wir bewusst einen bestimmten Teil unseres Gehirns stimulieren — immer und immer wieder, denn die Hirnforschung zeigt uns, dass sich das Gehirn tatsächlich neu strukturieren lässt. Gemeint ist das DEN (Direct-Experience-Netzwerk). Dieser Teil unseres Gehirns ist immer dann aktiv, wenn wir wirklich fokussiert sind. Zum Beispiel, wenn wir versuchen, ein Problem zu lösen oder Informationen zu analysieren. Es lässt sich über Achtsamkeit aktivieren und Personen, die regelmäßig üben, entwickeln nachweislich mehr graue Masse im präfrontalen Cortex, welche uns dabei hilft, das DEN schneller zu stimulieren.
Hier kommen unter anderem die zuvor genannten Daten ins Spiel — sie erzwingen Fokus. Diese bewusst zu analysieren und zu interpretieren, kann das unterstützende Werkzeug für kreative Menschen sein, um zu lernen das DEN schneller zu aktivieren. Vielleicht klingt es anfangs bizarr, dass die Lösung für mehr Kreativität in kürzerer Zeit zunächst über eher rationale Aufgaben erreicht werden soll. Aber genau diese Fokussierung sorgt für die richtige Aktivierung, macht uns konzentrierter, urteilsfreier und offener für Neues — und mit etwas Übung auf Abruf schneller und kreativer.
3. Öffnet die Tore! Mehr Schnelligkeit durch gezieltes Verdichten
Wie erwähnt, ist kreative Arbeit ein iterativer Prozess. Er gewinnt durch Überarbeitung an Stärke. Doch wer nach alten Mustern denkt, kann in diesem repetitiven, wenig spannungsgeladenem Prozess viel Zeit verlieren. Denn kreative Ideen oder Entwicklungen müssen der Tatsache standhalten, dass Endkonsumenten zu jeder Zeit auf ein anderes Angebot ausweichen können. Egal was es ist, wir wollen es jetzt. Und oft ist es am Ende sogar egal, von wem. Die Globalisierung hat Produktlebenszyklen also nicht nur verkürzt, gleichzeitig ist auch die Kundentreue durch das daraus resultierende Überangebot gesunken. Die Einbindung von Kunden, Partner, Spezialisten oder Endkonsumenten in den Kreativprozess ist daher kein notwendiges Übel mehr, es ist eine Notwendigkeit.
Co-Kreation ist immer noch Mangelware in kreativen Prozessen. Das alte Bild des einsamen Kreativen, der seine Kampagne nach monatelanger Abgeschiedenheit unter strömendem Applaus dem Vorstand präsentiert, gehört zu längst vergangenen Zeiten. Heute entwickelt man zusammen und das mit möglichst diverser Besetzung. Es geht darum, die Methode noch bewusster zu öffnen, um möglichst schnell in die Verdichtung aller Bestandteile zu gelangen.
Der Kreativprozess benötigt aus meiner Sicht viel mehr Inklusion und Flexibilität. Wir müssen fremdes Wissen zulassen und als Chance auf mehr Stärke und Beschleunigung sehen. Henry Chesbrough beschreibt den Vorgang so, dass wir Wissen zu- und abfließen lassen müssen, um Innovation zu beschleunigen. Wissen ist seiner Meinung nach heute so weit verbreitet, dass Unternehmen sich nicht mehr ausschließlich auf ihre eigene Forschung verlassen können. Das Gleiche gilt für den Kreativprozess. Aufgrund der geforderten Schnelligkeit benötigen wir viel mehr Wissen und Impulse von außen, um überhaupt noch mitschwimmen zu können.
Mein Vorschlag: Don’t wait!
Wir können also warten und weiter darüber nachdenken, wie wir die Zeit für kreative Arbeitsabläufe in einer sich immer stärker beschleunigenden Welt schützen. Oder wir betrachten Veränderungen als etwas, das uns neue Möglichkeiten bietet Altes, an dem wir uns unbewusst festklammern, hinter uns zu lassen. Unser wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umgang mit der Zeit ist nicht mehr das, was er noch vor ein paar Jahrzehnten war — und dass wir es auch nie wieder sein. Die Erwartungshaltungen an kreative Lösungen nehmen in ihrer Komplexität zu und wir schauen weg, obwohl offensichtlich ist, dass sich die Kreativbranche inmitten einer zeitlichen Krise befindet. Deshalb sollten wir neue Lösungen suchen und radikaler umdenken. Nicht morgen. Jetzt.