News selbst komponiert
Immer zum Erscheinen der aktuellen Printausgabe der PAGE: »Die Fundstücke« von Jürgen Siebert. Freuen Sie sich über kühne Kommentare zu Trends, Entwicklungen, Ereignissen und dem ganz normalen Alltagswahnsinn eines Kreativen … Heute: Die Zukunft der Nachrichten.
Die Nachrichtenwelt befindet sich im Umbruch – und ihre Lieferanten stecken in der Klemme. Das jahrzehntealte Geschäftsmodell funktioniert so nicht mehr. Es basierte darauf, dass Nachrichtenagenturen in aller Welt Informationen sammelten, diese aufbereiteten und an Zeitungen und Fernsehsender verteilten. Heutzutage sind Informationen aus aller Welt nur einen Klick entfernt … nicht nur für Redaktionen, auch für die Leser.
Als netzaffiner Filmfan kann ich mir heute vom Sofa aus ein Oscar-Erlebnis inszenieren, wie es kein Nachrichtenmedium je geliefert hat. Schon Stunden vor der TV-Übertragung logge ich mich auf der Fotoplattform Instagram ein, werfe einen Geotag-Anker am Veranstaltungsort Dolby Theatre in Los Angeles aus, um erste Fotos von den Vorbereitungen zu empfangen. Im Minutentakt landen Exklusivbilder auf meinem Smartphone, aufgenommen von Besuchern und den Stars selbst an Orten, wo Journalisten gar nicht hinkommen, zum Beispiel aus Garderobe, Taxi oder direkt vom roten Teppich.
Das Lesefutter zu den Academy Awards verschafft mir Twitter, ebenfalls im O-Ton. Dabei richte ich mir einen maßgeschneiderten Nachrichten-Mix an. Der offizielle Ticker von @TheAcademy versorgt mich mit den amtlichen Verlautbarungen. Als Klatschbasen verpflichte ich drei vor Ort twitternde Journalisten, etwa @WhitneyCummings von NBC, @carr2n (David Carr) von der »New York Times« und natürlich @PerezHilton. Das Sahnehäubchen sind die Tweets nominierter Hollywood-Stars, allerdings nur, wenn sie selbst zum Smartphone greifen, wie zum Beispiel @mrskutcher, @DAVID_LYNCH, @katyperry, @MMFlint (Michael Moore) und @SamualLJackson. Vom Management geführte Twitter-Accounts produzieren allenfalls witzlose PR-Schaumschlägerei.
Derart mit Live-Bildern und -Texten versorgt, fühle ich mich mindestens so gut für die nächtliche TV-Übertragung vorbereitet wie die Moderatoren von ProSieben. Der Zuschauer auf Augenhöhe mit den Journalisten. Natürlich verfolge ich das Geschehen auf zwei Bildschirmen. Das ist die Nachrichtensituation von heute, auf die Agenturen und Medien reagieren müssen. Tun sie es nicht, wird ihnen das Publikum das Heft aus der Hand nehmen, denn die Werkzeuge zur Nachrichtenbeschaffung und -verbreitung haben wir kostenlos auf unseren Mobilgeräten.
Die britische Tageszeitung »The Guardian« machte es Mitte Februar vor. Sie installierte anlässlich Obamas Ansprache zur Lage der Nation auf der Basis des frei verfügbaren News-Aggregators RebelMouse eine wachsende Nachrichtenseite, die von den Lesern gefüllt wurde. Als Nachrichtenvehikel wählte der »Guardian« die neue Twitter-Video-App Vine, mit der sich 6-Sekunden-Filmchen erstellen und senden lassen. Trugen diese das vereinbarte Stichwort, den Hashtag #SOTUin6, landeten sie, nach Freigabe durch die Redaktion, direkt auf der Nachrichtenseite. Zur Anregung hatten US-Korrespondenten bereits ein Dutzend 6-Sekünder gedreht und veröffentlicht, in denen Passanten ihre Erwartungen an den Präsidenten äußerten.
Genau dies wird in Zukunft die Aufgabe der Journalisten sein: Lotse spielen und neue Nachrichtenformate auf die Schiene setzen. Die Inhalte liefern Journalistenlaien und -profis, die Redaktion kontrolliert die Qualität dieser Nachrichten.
Was bedeutet diese Entwicklung für Designer? Erstens: Dass es für gedruckte Tageszeitungen nicht mehr viel zu tun gibt. Zweitens: Wenn’s um Nachrichten geht, liegt die Zukunft im Screendesign. Aber was kann man machen, wenn sich News-Seiten wie die von RebelMouse automatisch generieren? Jede Menge, denn noch sind sie alles andere als angenehm lesbar: Einheitsschrift, keinerlei Auszeichnungen, mangelhafte Struktur.
Die Arbeitsplätze der Zukunft finden sich bei den Entwicklern dieser Sammel- und Lese-Apps. Die hierzulande entwickelte Social-Reading-Plattform dotdotdot ist ein Vorreiter in Sachen Leserlichkeit (siehe PAGE 02.13, Seite 88 ff.). »Long Form Reading« und »Distraction Free Reading« sind die Schlagwörter der Saison. Heutige Bildschirme können Texte weitaus besser darstellen als der Zeitungs- und Magazindruck. Sie tun es aber noch nicht, weil der Screentypografie (noch) zu wenig Aufmerksamkeit gilt. Leute, ergreift diese Chance …
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