Mit ihrem Überwachungsspiel »Orwell« heimsten die drei Gamedesigner des Start-ups Osmotic Studios gleich mehrere Preise ein. Wir zeichnen nach, wie den Existenzgründern der große Wurf gelang.
Projekt: Ein interaktives Überwachungsspiel, dessen Storytelling auf dem Austausch brisanter Dateien basiert Studio:Osmotic Studios, Hamburg Technik: Adobe Photoshop, Adobe Illustrator, articy:draft, Unity Zeitraum: April 2014 bis Oktober 2016
Die Resonanz auf »Orwell«, das erste Spiel des Hamburger Gamestudios Osmotic, war durchweg positiv. Auch wenn die Anerkennung der User bisweilen ein wenig verklausuliert daherkam. Aber auch Injurien wie »Your game made me feel like an asshole« sind durchaus als Kompliment zu verstehen. Schließlich bringt das Game den Player in eine verzwickte Situation: Nach einem Terroranschlag soll er im Auftrag eines fiktiven Staats namens The Nation eine Reihe von Zielpersonen bespitzeln.
Um weitere Anschläge zu verhindern, muss der Spieler Datenschutz und Privatsphäre ignorieren und aus unterschiedlichen Quellen Informationen über die Verdächtigen zusammentragen – aus Zeitungsartikeln, Polizeiakten oder Messenger-Protokollen, sogar auf Rechner und Telefone der Personen kann er zugreifen. Kurzum: Wir haben es mit der Inkarnation eines orwellschen Überwachungsstaats zu tun, die den Spieler unweigerlich in die ethische Zwickmühle treibt: Welches Maß an Überwachung und an Einschränkung der Freiheitsrechte lässt sich im vermeintlichen Interesse der öffentlichen Sicherheit rechtfertigen?
Ein Game ohne Gamification
Hinter Osmotic Studios stecken Lead Artist Melanie Taylor, Gamedesigner und Producer Daniel Marx sowie Developer Michael Kluge, die mit »Orwell« im April den Deutschen Computerspielpreis 2017 in der Kategorie »Bestes Serious Game« abräumten. Bereits während ihres Masterstudiengangs Games an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften teilten die drei ihr Faible für Independent-Games und gründeten nach ihrem Studienabschluss im April 2014 Osmotic Studios (siehe PAGE 05.16, Seite 98). Mit »Orwell« sind Taylor, Marx und Kluge ihrer Vorliebe treu geblieben.
»Orwell« verzichtet bewusst auf Gamification-Elemente: keine Balken, keine Counter, keine Zahlen. Die Story punktet vor allem mit ihrem Narrativ: Die meiste Zeit sitzt der User vor fiktiven Computeranwendungen, die bekannten Vorbildern nachempfunden sind. Er scrollt durch Timelines, liest Kommentare und Chatprotokolle, während er versucht, jene Informationen zu identifizieren, die den Täter überführen. Insofern ist das Spiel eher eine Simulation und auf der Games-Plattform Steam auch mit dem entsprechenden Tag versehen. Über 100 000 Mal hatte Orwell sich dort bis Ende Juni verkauft.
Um dem Spieler auch ohne Gamification-Elemente Feedback geben zu können, erfand das Team den Vorgesetzten, der die Aktionen seines Angestellten kommentiert. Schließlich sei es auch eine Frage der Immersion.
»Das Spiel wird damit realistischer«
argumentiert Mel Taylor. So präsentiert »Orwell« sich als packender und stringent erzählter interaktiver Thriller, der den Spieler mehr und mehr in den Bann zieht und ihm das Herz in die Hose rutschen lässt, wenn gerade im kritischen Moment die Verbindung zum Server abbricht – ein kleiner, gemeiner Gruß des Osmotic-Teams, mit dem es ein ebenso feines Gespür für die Tücken des Alltags wie für intelligente Dramaturgie demonstriert.
Bild: Osmotic Studios
Game Design »Orwell« – Screenshot
Einfaches Mittel, spannungsreich eingesetzt: An diesen fiktiven,
aber realen Vorbildern nachempfundenen Profilen muss der Spieler verdächtige Personen ausspionieren – Bild: Osmotic Studios
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Game Design »Orwell« – Screenshot
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Game Design »Orwell« – Screenshot
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Game Design »Orwell« – Screenshot
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Game Design »Orwell« – Screenshot
Mit einer animierten Sequenz, modelliert und gezeichnet von dem Hamburger 3D Designer Mathias Fischer, zieht das Spiel den User gleich zu Beginn in die Story – Bild: Osmotic Studios
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Bild: Osmotic Studios
Game Design »Orwell«
Das Team entwickelte das Storytelling
des Überwachungs-
Games »Orwell«
mit farbigen Notizzetteln – Bild: Osmotic Studios
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Lesen statt schießen
»Ausgangspunkt des Projekts war die Frage, ob wir es schaffen, eine komplette Geschichte ausschließlich mit dem Austausch von Dokumenten zu erzählen«, schildert Daniel Marx die Initialzündung. Aus der Idee entwickelte sich, auf bunten Notizen an der Wand gesammelt, dann die perfide Überwachungsstory, aufgeteilt in fünf Kapitel, die für die fünf Tage stehen, in denen der Spieler seine Aufgabe erledigt. Auf die Anregung seines Publishers Surprise Attack nutzte Osmotic diese Struktur des Spiels für einen Release in fünf Schritten. Der Logik einer TV-Serie folgend, veröffentlichte Osmotic im Herbst 2016 wöchentlich einen Teil. Und zwar nicht ohne die obligatorischen Cliffhanger, was nicht nur dramaturgisch, sondern auch aus der Marketingperspektive ein cleverer Schachzug war. Das erste Level ist kostenlos, danach werden 9,99 Euro für die vier weiteren fällig.
In Zeiten, in denen Themen wie Vorratsdatenspeicherung, Staatstrojaner und Onlinedurchsuchung immer wieder diskutiert werden, trifft das Spiel auch den Nerv der hinreichend sensibilisierten Gamer. Tatsächlich gingen bei Osmotic schon Fragen nach dem Release von Season 2 ein. Begeisterung hin, Kalkül her: »Mit diesem Ausmaß an Zuspruch hatten wir nicht gerechnet«, verrät Daniel Marx.
Articy Draft hilft beim Leveldesign
Für die Umsetzung von »Orwell« kam die Game-Engine Unity zum Einsatz, die als kompakte Lösung den kompletten Prozess vom Leveldesign bis zum Rendern der einzelnen Spielszenen erlaubt. Das Leveldesign jedoch setzte das Team mit dem Authoringtool articy:draft um. Der Vorteil: Mit articy:draft lassen sich die Designdaten visuell leicht erfassbar als Flussdiagramm darstellen und komfortabel nach Unity exportieren, während man sie bei einigen anderen Authoringtools aufwendig kopieren muss. In Unity dagegen muss man Flussdiagramme entweder komplett selbst erstellen oder mittels eines kostenpflichtigen Plug-ins umsetzen. Das komfortable Handling mit articy:draft beschleunigt den Designprozess um bis zu 30 Prozent. »Das Schöne an dem Tool ist zudem, dass man mittels Export den Spielablauf relativ leicht testen kann«, freut sich Daniel Marx. »So bekommt man früh ein gutes Gefühl fürs Gameplay.«
Kein Polygonengulasch, bitte!
Am Ende renderte Unity auf Basis des Leveldesigns die Szenen des Spiels. Mit einigen Freelancern legte Lead Artist Melanie Taylor die visuellen Assets auf ihrem Rechner an – mit Ausnahme des filmischen Spiel-Intros. Für diese Animation gab Mathias Fischer, ein externer Designer, ordentlich Gas. Er hat die 3D-Szene modelliert und die Charaktere in 2D handgezeichnet und animiert, während UI Designer Clemens Kügler alle Interfaces gestaltete.
Die liebevoll designten Avatare in Polygonoptik realisierte Mel Taylor selbst. Diese Porträts entstanden aber nicht etwa mittels Klicken auf einen Photoshop-Filter. »Filter arbeiten zu ungenau«, so Taylor, »weil der Algorithmus die Eckpunkte der Polygone willkürlich setzt« – ein Phänomen, für das Kompagnon Daniel Marx den treffenden Begriff »Poligonengulasch« geprägt hat.
»Das menschliche Auge macht diesen Job einfach besser als jeder Algorithmus, und man hat mehr Kontrolle über den Stil«
resümiert Mel Taylor. Also gestaltete sie alle Konterfeis selbst, indem sie diese aus unzähligen kleinen Dreiecken zusammensetzte – in Adobe Illustrator und mühevoller Fleißarbeit (siehe »Polygone in Handarbeit«). Lediglich bei Hintergründen oder bei unwichtigen Details kamen auch mal Triangulierungsfilter des Browsers zum Einsatz.
Wenn Leveldesign und die grafischen Assets (in Form von PNG-Dateien) nach Unity exportiert sind, steuert die Engine den Ablauf des Spiels entsprechend den Vorgaben aus articy:draft und rendert auch die Spielszenen – ähnlich den Kameras in 3D-Modeling-Programmen. Lediglich für den reibungslosen Import der Photoshop-Dateien steuerte Developer Michael Kluge noch ein eigenes Skript bei. Photoshop, Illustrator, articy:draft, Unity – was das technische Set-up angeht, benötigt man für attraktives Gamedesign heute keine hochkomplexe Spezialsoftware mehr. Alle für »Orwell« verwendeten Tools sind Gestaltern in der Regel bekannt.
»Früher hätte man mit einem kleinen Team wie unserem keine anspruchsvollen Spiele entwickeln können«
sagt Daniel Marx, »weil man sehr viel Zeit hätte aufwenden müssen«. Heute machen es einem die ausgereiften technischen Tools wesentlich leichter, sodass man zu dritt oder sogar allein ein Spiel entwickeln kann. Nur für die gute Idee gibt es immer noch kein Tool.
Flussdiagramm: Mit articy:draft visualisiert der Gamedesigner die Story in einer Aneinanderreihung von Aktionen in
Form von Knotenpunkten, sogenannten Nodes, die wiederum durch Bedingungen verknüpft sind. Jeder Knoten steht für eine Aktion und/oder Bedingung, die die darauffolgenden Knoten auslöst, sobald der Spieler den vorherigen abgearbeitet hat: So erhält der Spieler etwa, nachdem er Informationen weitergeleitet hat, eine Nachricht und neue Daten. Im Bild sehen wir die visuelle Repräsentation des ersten Levels.
Unten zeigt das Diagramm folgendes schematisiertes Szenario: Der Spieler bekommt den Auftrag (rot), alle Daten aus einer Polizeiakte zu übernehmen. Dafür erhält er die Akte (gelb) sowie eine Instruktion (weiß). In der Akte befinden sich zwei Datensätze (orange): Name und Bild. Verwendet der Spieler beide Informationen, gilt der Auftrag als erledigt (rosa). Auch praktisch: Alle Objekte lassen sich per Drag-and-drop vernetzen.
Polygone in Handarbeit
So kreierte Lead Artist Melanie Taylor die Avatare des Spiels »Orwell« in Photoshop und Illustrator
Die Ausgangsbasis aller Avatare in »Orwell« ist ein Porträtfoto. [Bild 1 in der Galerie]
Dieses ergänzte Mel Taylor in Photoshop um weitere Bildschnipsel aus allen möglichen Quellen (Internet, private Fotos et cetera). Aus dem unschuldigen Musiker auf dem Foto wird der politische Aktivist mit einer neuen Frisur, Sonnenbrille, Lederjacke und grobgliedriger Wallet Chain. [Bild 2 in der Galerie]
Dann wird’s aufwendig: Auf einer weiteren Illustrator-Ebene zeichnete Taylor das Bild von Hand als Polygonnetz nach. Ein wenig wie bei den Impressionisten, nur setzt sich das Bild eben nicht aus Pinselstrichen, sondern aus Dreiecken zusammen. [Bild 3 in der Galerie]
Und schließlich gilt es, jedem Dreieckchen mit dem Pipettenwerkzeug ein Farbpixel zuzuordnen. [Bild 4 in der Galerie]
Dann montierte Taylor das Porträt auf einen ebenfalls aus Dreiecken gemalten Hintergrund. [Bild 5 in der Galerie]
Et voilà: So arrangiert Unity schließlich aus allen als PNG-Datei exportierten Grafiken ein Fake-Interface. Auch die Layouts der Webseiten sind komplett in Photoshop gestaltet. [Bild 6 in der Galerie]