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Interaktiver Webspot »Carousel«

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hilips’ interaktiver Webspot „Carousel“ zeigt einen Überfall in Frozen-Moment-Ästhetik. Für die Postproduktion nutzte das Stockholmer Studio Redrum 3ds Max, SynthEyes und Flame.

Urprünglich war „Carousel“ nur als Teil einer interaktiven Microsite zur Ein­führung des 56-Zoll-Full-HD-Fernsehers Philips Cinema 21 : 9 gedacht. Doch der spektakulär gefilmte erstarrte Augenblick eines Überfalls, bei dem sich Polizei und maskierte Clowns wilde Schießereien samt Explosionen liefern, ist schon jetzt eines der Glanzlichter des Webjahres – dank Tribal DDB Amsterdam (Idee), Stink (Filmproduktion), Red­rum (Postproduktion) und Stink Di­gital (Webeinbindung). Bei den Cannes Lions gab es dafür den Grand Prix in der Kategorie Film.

Der genau 2 : 19 Minuten lange Clip ist als interaktive Filmschleife angelegt: Die kontinuierliche Kamerafahrt beginnt mit einem Polizisten, der auf den Ort des Verbrechens zeigt. Bei dieser Plansequenz fährt die Kamera mitten durch das Geschehen in das Gebäude hinein, die Stockwerke hoch, durch die Gänge und aus einem Fenster schließlich wieder hinunter auf den Polizisten vom Anfang. Das Ergebnis sieht nach großem Hollywoodkino aus und hat seit seinem Erscheinen im Netz bereits für einige Aufregung und Spekulationen gesorgt. Da wurden eine 3-D-Kamera à la „Matrix“ oder auch High-Speed-Kameras vermutet. Nichts dergleichen: Es war die Arbeit des Art Department und natürlich eine Menge Postproduktion. Die Schauspieler verharrten alle regungslos – teilweise an Drahtseilen aufgehängt – und allein die Kamera bewegte sich durch das Setting. Die Akteure mussten also längere Zeit in einer Pose aushalten. Hierfür heuerte Stink Körperbeherrschungsspezialisten wie Stuntmänner und Tänzer an.

Richard Lyons, VFX Supervisor und Senior Flame Artist bei Redrum in Stockholm, erzählt: »Für diesen Frozen Moment musste immer etwas im Bild sein. Und das so detailgenau, dass sich der User später in der Webanwendung sogar Bild für Bild durch den Film bewegen kann.« Auf der Microsite wurde »Carousel« als Loop integriert, den der User beliebig anhalten kann, um die Szenerie genauer zu betrachten. Darüber hinaus enthält der Clip mehrere Hot Spots. Klickt man auf einen, wird eine von mehreren Mockumentarys – das sind parodistische Making-of-Sequenzen – eingeblendet, in der dann zum Beispiel der VFX Supervisor mit einfachen Photoshop-ähnlichen Werkzeugen im Standbild herumretuschiert. Der Faktor Zeit war bei »Carousel« wie so oft die größte Herausforderung. In einer Woche Vorproduktion für die Animatics maß Stink den Drehort aus. Auf den Dreh in einer Prager Schule an einem Wochenende folgte sofort die Postproduktion in Stockholm. Insgesamt waren lediglich sieben Wochen einschließlich Webeinbindung vorgesehen, erklärt Mark Pytlik, Head of Digital bei Stink Digital in London: »Wir hatten ein paar lan­ge Nächte …«


Making of


1. Den Dreh für den Motion-Control-Einsatz vorbereiten
Der als Frozen Moment dargestellte Überfall sollte in einem Krankenhaus stattfinden. Ein solches für den Dreh zu finden, war aber schwierig, weil gerade eine Grippeepidemie in Tschechien ausgebrochen war. Schließlich fanden wir eine Schule in Prag, die wir zunächst komplett ausmaßen, um sie in der Previsualisierung sehr rudimentär zu modellieren. So konnten wir festlegen, wie die Kamera um das Gebäude fahren sollte und welche Kräne und Motion-Con­t­rol-Systeme nötig waren. Die als eine kontinuierliche Bewegung konzipierte Sequenz unterteilten wir in mehrere Abschnitte, die wir entweder mit drei Kränen, per Motion-Control-System oder mit einem Dolly drehten. Da wir nur ein Wochenende zum Filmen hatten – der Schulbetrieb sollte am Montag wieder­aufgenommen werden –, gab es sehr viel Logistik zu bewältigen. Aufwendig war das Motion-Control-System, das auf einem 35 Meter langen Gleis bewegt wurde.


2. Der Dreh mittels Clean-Plate-Verfahren
Bei den Aufnahmen gab es insgesamt sieben verschiedene Durchgänge. Während des Drehs war immer ein Avid-System mit geringer Auflösung dabei, um sicherzustellen, dass die Geschwindigkeit und der Winkel der Kamera zwischen den Übergän­gen möglichst übereinstimmten. Um Kamerafahrten zu wieder­­-holen, nutzen wir Motion Control. Das war sehr hilfreich, da wir mit der Clean-Plate-Technik arbeiteten. Wir filmten also die Schau­-spieler an den Seilen hängend und dann das Ganze noch einmal ohne die Darsteller. So hatten wir genügend Filmmaterial für die Retusche. Wir zeichneten mit 50 Frames pro Sekunde auf. Mit dem zusätzlichen Material von insgesamt 5 : 50 Minuten konnten wir eine Filmschleife mit Speedramp-Effekt erstellen. Statt einer line­aren, gleichmäßigen Kamerageschwindigkeit gibt es sowohl beschleunigte als auch verlangsamte Teile. An interessanteren Stellen verlangsamten wir das Tempo, bei Einstellungen mit wenig Inhalten im Raum beschleunigten wir. Bei der Wiedergabe sieht das der User nicht unbedingt, allerdings fühlt er es.


3. 3-D-Tracking des Filmmaterials für die virtuelle Kamera
Für das Matchmoving, also das Einfügen von virtuellen Objekten, verwendeten wir zunächst die 3-D-Kamera-Tracking-Software SynthEyes. Mit ihrer Hilfe beseitigten wir Verzerrungen (Lens Distortion) und Verwacklungen, die durch die Vibration der Kamera entstanden waren. Dann setzten wir in jeder Szene Mar­kie­rungspunkte für die 3-D-Positionierungen. So generierten wir für das ganze Material eine 3-D-Kamera, um dann später zerspringen­­des Glas oder herumwirbelnde Geldscheine einfügen zu können.


4. 3-D-Objekte einsetzen
In Autodesk 3ds Max bauten wir die Objekte für die Special Effects. Das zerbrechende Glas zum Beispiel erstellten wir zunächst mit einem Dummy und ohne Texturen. Dann setzten wir alles beim Compo­siting in Flame zusammen.


5. 3-D-Modell der Location für das Gewehrfeuer erstellen
Eine weitere Schwierigkeit stellten die in der Bewegung erstarrten 3-D-Objekte dar. Neben den Banknoten sind es vor allem die vielen gefrore­nen Explosionen, durch die die Kamera fährt. Das Feuer, die Explosionen und das Mündungsfeuer generierte Magoo 3D Studios (www.magoo.se) mithilfe des Fume-Effects-Plug-ins in 3ds Max.
Um mit der 3-D-Kamera arbeiten zu können, benötigten wir zur Orientie­­­-rung grob platzierte Raumlinien.
Deshalb bauten wir ein sehr einfaches Modell in 3 D nach und konnten so nachvollziehen, wie die Objekte im Raum angeordnet sind.


6. Lichteffekte und Widerschein anlegen
Für realistische Lichteffekte wie den Widerschein (Lens Flare) nutzten wir in Flame das Lens-Flare-Plug-in von Knoll Light Factory. Dafür setz­­ten wir zuerst in der 3-D-Tracking-Software SynthEyes dort einen Punkt, wo bei­-spielsweise das Gewehr platziert werden sollte. Danach renderten wir ihn vor schwarzem Hintergrund. Mit dem Plug-in konnten wir den Widerschein auf diesem Punkt dann rein in 3 D tracken.


7. Glatte Übergänge in Flame herstellen
Die Hauptschwierigkeit der Produktion waren die Übergänge zwischen den Kameraeinstellungen. Da gab es mehrere Hindernisse: Wir nutz­-ten zwar Motion Control, um damit die Bewegung exakt zu wiederholen. Manchmal jedoch ging die Motion-Control- in eine Kranbewegung über. Da diese manuell gedreht wurde, passten die Übergänge nicht immer exakt. Daher nutzten wir die Projek­toren in Flame: Wir legten ein Bild über die 3-D-Elemente sowie ein Raster auf die nächste Einstellung, um den Boden der vorangegangenen Szene zu erweitern und beide nahtlos zu verbinden.


8. Alle Elemente und Effekte zusammensetzen
Die einzelnen Sequenzen, Ebe-nen, Bewegungen und Effekte setzten wir dann auf einer Timeline in Flame zusammen. Das Durcheinan­der mit den vielen kleinen abgetrenn­ten Segmenten ist ein wenig unorthodox, aber es ging wegen der Übergän­ge nicht anders. Auch das Timing musste stimmen: Der fertige Clip war 2 : 19 Minuten lang, das Ausgangsmaterial aber mehr als 5 Minuten.


9. Fertigen Film in die Microsite einbinden
Den fertigen Film integrierte Stink Digital mit ActionScript 3 in die Microsite. Dabei funktioniert der Loader zugleich als Vorspann. Zudem fügte das Team mehrere parodistische Mini-Making-of-Clips ein, die als Hot Spots eingeblen­-
det werden. In ihnen kommentieren der Regisseur, der Beleuchter und ein VFX-Spezialist die Produktion des Films. So wird beispielsweise gezeigt, wie mit simplen Photoshop-ähnlichen Tools scheinbar Special Effects integriert werden. Diese Menüs und Einspielungen wurden in After Effects erzeugt und dem Film später als Schmankerl hinzugefügt.

(Dieses Making of finden Sie im Heft PAGE 09.2009)
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