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Was für eine schöne Sauklaue!

Handschrift verschwindet nicht, sie zieht nur um. Von der analogen in die digitale Welt

Handschrift_Obrist

Der Schweizer Hans Ulrich Obrist ist Kodirektor der Serpentine Galleries in London. Auf Instagram dokumentiert der renommierte Kurator in einer Dauerausstellung Hand­schriften von Künstlern, Schriftstellern und Wissen­schaftlern. Wir sprachen mit ihm über sein Verhältnis zu Handgeschriebenem.

 

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Täglich postet Hans Ulrich Obrist auf Instagram handschriftliche Sätze von Künstlern, Schriftstellern oder Wissenschaftlern – und rückt Handschrift so ins öffentliche Bewusstsein

 

 

 

 

 

 

 

Wenn Ihr E-Mail-Client Ihnen die Möglichkeit böte, E-Mails mittels Stift oder mit dem Finger zu schreiben, würden Sie das nutzen?

Hans Ulrich Obrist: Auf jeden Fall. Ich schreibe ohnehin öfter handschrift­liche E-Mails, das heißt, ich scanne meine handgeschriebenen Briefe und maile sie dann. Das mache ich eigentlich jeden Tag.

Ist das nicht wahnsinnig umständlich?

Ach, das geht schon, wenn es nicht zu lange Briefe sind. Wobei ich als Bewunderer von Robert Walsers Mikrogrammen oft auch mehr schreibe. Ich finde das sehr faszinierend. Wenn ich unterwegs bin – im Taxi, im Zug, in der U-Bahn oder im Flugzeug –, schrei­be ich Briefe und versuche auch bei längeren Texten alles auf eine A4-Seite zu bekommen, sodass es fast Walser-artige Mikrogramme werden, die von dem Empfänger möglicherweise eine gewisse Zeit des Dechiffrierens benötigen.

Sie tun ja einiges dafür, dass Handschrift nicht verschwindet.

Ich bin immer optimistisch und glaube, dass wir Dinge verändern können. Anstatt zu beklagen, dass sie verschwindet, versuche ich, Handschrift wieder in das öffentliche Bewusstsein zurückzuholen.

Zum Beispiel über Ihr Instagram-Projekt.

Als ich vor circa einem Jahr in Los Angeles den Künstler Ryan Trecartin in seinem Studio besuchte, regte dieser mich an, Instagram zu nutzen. Da kam mir die Idee, mithilfe dieses Social Networks, das ich vorher nicht verwendet hatte, Handschrift attraktiv und interessant zu machen. Zu zeigen, dass mit der Hand schreiben auch weiterhin eine Freude ist.
Es geht nicht darum, das Viktorianische Zeitalter mit idealistischen Schnörkelschriften zurückzubrin­gen oder wieder Schönschreibkurse einzuführen. Das ist nicht mein Projekt. Ich möchte Handschrift richtiggehend magnetisch machen und zeigen, was verloren ginge, wenn man sie nicht mehr nutzte. Deshalb poste ich jeden Tag auf Instagram oder Twitter einen handschriftlichen Satz von einem Künstler oder einer Künstlerin.

Wie reagieren die Künstler auf Ihre Frage nach einer Handschriftenprobe? Haben auch schon mal welche abgelehnt?

Nur ein Künstler, Tino Sehgal aus Berlin. Er schreibt nie mit der Hand, er signiert nicht, es gibt keine hand­schriftlichen Spuren von ihm. Es stünde also im Gegensatz zu seinem Werk, wenn auf einmal ein handschriftlicher Satz von ihm auftauchen würde. Oft entstehen die Proben spontan, manchmal will aber auch darüber nachgedacht werden, dann kommen sie später per E-Mail. Es ist ja schon ein sehr öffentliches Statement, was über Twitter und Instagram um die 50 000 Menschen erreicht. Mein erstes wirklich großes Online-Ausstellungsprojekt ist zugleich eine Bewegung. Ich möchte die Handschrift zurück­holen, und deshalb ist es mir auch ein Anliegen, dieses Projekt öffentlicher zu machen und über die Kunstwelt hinauszugehen.

Soll das Projekt in der Onlinewelt bleiben, oder wird es in ein Buch münden?

Ich möchte schon gerne ein Buch daraus machen. Handschrift hat immer auch etwas sehr Visuelles, es geht ja zum Beispiel auch um das Papier. Das kommt auf Instagram weniger zum Ausdruck, in einem Buch könnte man besser sehen, wie die Größe und Textur der beschriebenen Papiere variiert. Manchmal sind es Post-its – oder eine rausgerissene Seite aus einem Notizbuch oder ein Stück Zeitungspapier. Allerdings besteht bei einem Buch immer die Gefahr, dass man ein Projekt abschließt, und das will ich nicht, denn zurzeit ist es eine meiner Lieblingsaktivitäten.

Einige dieser Proben sind ja mehr gezeichnet als geschrieben, fällt das für Sie auch unter Handschrift?

Das gehört alles zusammen. Gerade die Doodles, die sich zwischen Schrift und Zeichnung einordnen lassen, sind für viele Menschen heute sehr wichtig. Man könnte sie als eine Art Mindmapping bezeichnen.

Sie selbst zeichnen, kritzeln und skizzieren ja auch wie besessen – sehr schön doku­men­tiert in dem Buch »Think Like Clouds«, das Ihre Notizen aus 22 Jahren zeigt. Sind diese hand­schriftlichen Notizen für Sie eine Art Denkhilfe?

Unbedingt. Ich führe sehr viele Gespräche, und das bedeutet für mich, sich auf den anderen einzulassen. Wenn ich im Laufe eines Gesprächs meine No­tizen ins iPhone tippen würde, wäre ich ja dauernd ab­gelenkt, käme vielleicht sogar in Versuchung, kurz meine E-Mails zu checken. Ich finde, in einem Gespräch sind ausschließlich handschriftliche Notizen angebracht. Dieses Auf­skizzieren ist ja keine Ablenkung vom Gespräch, im Gegenteil, es hilft beim Denken und Strukturieren.

Sollen Kinder in der Schule noch Handschrift lernen?

Ganz sicher muss Schreiben in der Schule unterrich­tet werden, das braucht ja auch eigentlich gar nicht so viel Zeit. Die Bildungsforscher Robert Abbott und Virginia Berninger haben in einer Studie an der University of Washington herausgefunden, dass sich die Lesekompetenz von Kin­dern automatisch erhöht, wenn man ihre handschriftliche Fähigkeit verbessert. Handschrift muss also unbedingt weiter gelehrt werden.

Welche Chancen hat Handschrift, im digitalen Zeitalter zu überleben?

Auf der diesjährigen Digital-Life-Design-Konferenz Ende Januar in München wurden ganz viele Tablets mit Stiften vorgestellt. Bei Steve Jobs haben sie ja nie eine Rolle gespielt, er wollte immer den holisti­schen Aspekt des iPhones betonen und nicht, dass da noch ein Stift drinsteckt. Aber jetzt kommt mit Tablet und Pen das Handschriftliche zurück. Es ist schon interessant, dass ein 76-jähriger Künstler wie David Hockney damit zeichnet und schreibt. Handschrift muss einen Ort in unserem Leben haben, ob sich dieser Ort in der analogen oder in der digitalen Welt befindet, spielt keine Rolle.
Auch entstehen durch die neuen Devices neue Formen von Texten. Twitter führt zu einer ganz anderen Art von Dichtung und Poesie, und das ist nicht nur negativ. Handschrift mag da ein bisschen wie ein Anachronismus erscheinen, aber sie ist ja nicht nur ein motorischer Prozess, sie hat auch viel mit Erinne­rung zu tun. So ist der Protest gegen das Verschwinden der Handschrift auch ein Protest gegen das Vergessen im Zeitalter des Informationsüberflusses.

Was fasziniert Sie an Handschrift am meisten?

Dass es nie zweimal dieselbe gibt. Ich hörte kürzlich einen Vortrag des israelischen Hirnforschers Adi Mizrahi, der sagte: »Unsere Herzen sind sehr ähnlich konstruiert, aber es gibt nicht zweimal ein ähnliches Gehirn.« Und weil der Link zwischen Hand und Hirn sehr relevant ist, Handschrift demnach quasi direkt aus dem Gehirn kommt, können auch zwei Handschriften nie gleich sein. Wenn Sie es nicht glauben, schauen Sie sich die Instagram-Ausstellung an, keine 2 der mittlerweile 500 Sätze sind identisch.

Handschrift_Abramovic

Handschrift_Holmqvist

Handschrift_Albert-Hofmann

Handgeschriebenes von Marina Abramović, Karl Holmqvist und Albert Hofmann auf http://instagram.com/

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