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Mut zur Veränderung

Jürgen Siebert über den technischen Fortschritt und die Courage, Dinge wegzulassen.

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Was befördert eigentlich den technischen Fort­schritt? Sind es radikale Ideen? Die meis­ten werden niemals rea­lisiert. Raf­finierte Patente? Dienen oft dazu, Ideen »einzufrieren« und den Wettbewerb auszubremsen. Industrie­standards? Stehen mehr fürs Beharren als für Weiterentwicklung.

Das Zauberwort lautet »Courage«, im Sinne von Entschlossenheit. Der Be­griff fiel bei der Apple-Keynote Anfang September, als Marketingchef Phil Schil­ler dem Publikum erläuter­te, warum man sich von der fünfzig Jahre alten analogen 3,5-Millimeter-Kopfhö­rerbuchse verabschiede: »Es gibt tech­nische Gründe, die letztlich in einer Haltung münden: Courage. Dem Mut, voranzuschreiten, etwas Neues zu ma­chen, was uns alle voranbringt.«

»Dinge, die wegfallen, sorgen für Aufregung«

Die Reaktion der Medien war vorhersehbar, zumal sie seit Jahren demselben Muster folgt. Diskutiert werden nicht schnellere Chips, bessere Kame­ras oder längere Batterielaufzeiten, nein … Dinge, die wegfallen, sorgen für Aufregung. Beim iMac war es das Diskettenlaufwerk, beim MacBook Air gar kein Laufwerk, beim iPhone die fehlende Tastatur, bei iOS das Aussper­ren von Flash, und das aktuelle MacBook hat gleich vier Schnittstellen ent­sorgt: SD-Karten-Steckplatz, USB-3-, HDMI- und Thunderbolt-Port. Apple nennt das »um Jahre voraus«.

»Um der Mehrheit zu gefallen, laborieren Unternehmen und die Politik lieber am
Status quo, als mit Courage voranzuschreiten«

Bei Entweder-oder-Entscheidun­gen zeigen sich stets die zwei Seiten einer Medaille. Wählst du Lösung A, verärgerst du die B-Fans, wählst du B, protestieren die A-Fans. Geht es um einen Richtungswechsel, eine Weichenstellung, einen Angriff auf den Status quo, regen sich alle auf, die gegen einen Wechsel sind. Lässt man alles beim Al­ten, sind die meisten zufrieden. Der Mehrheit gefallen zu wollen ist der Grund dafür, warum Unternehmen, aber auch politische Parteien lieber am Status quo laborieren, als mit Courage voranzuschreiten.

Niemand hat die Lebenszyklen von Technologien besser beschrieben als Steve Jobs: »Wir versuchen, den technischen Pfad zu erkennen, der eine Zu­kunft hat. Die meisten Technologien entwickeln sich in Zyklen. Sie haben ihren Frühling, gefolgt von Sommer, Herbst und ihrem Ende. Wir versuchen, im Frühling auf den Zug aufzuspringen.« Mit diesen Worten hat Jobs Flash beerdigt. Und mit derselben Begründung führt Apple jetzt das Ende der analogen Musikübertragung herbei. Sie passt nicht mehr in die Zeit, was Phil Schiller mit zwei Beispie­len überzeugend de­mon­s­trier­te. Ein Paar federleichter Ohr­stöpsel mit Ge­räusch­un­ter­drü­ckung holt sich die Energie dafür aus der­sel­ben Buchse, die den Klang liefert. Und die neuen AirPods, in deren Innern Sen­sor, Computer­chip und Spracher­kennung stecken, erlauben völlig neu­e Funktionen beim mobilen digitalen Hören.

Die analoge Buchse hat lange das Ge­schäfts­modell vieler Unternehmen ge­sichert, die sich an einen Standard klam­mern, aber selbst keinen Beitrag für die Weiterentwicklung des Musikhörens leisten wollen oder können. Erste digitale Kopfhörer geben eine Vor­ahnung davon, wie wir in Zukunft mit Klängen und dem gesprochenen Wort kommunizieren.

Ich wünsche mir, dass mehr Un­ternehmen und Organisationen unser Le­ben mit Courage weiterbringen. Auch die Politik. Dort vermisse ich den Mut zur Veränderung am meisten. In Festreden werden große Ziele und Visionen beschworen. Wenn es zur Wahl kommt, sind die großen Wei­chen­stel­lungen vergessen. Vo­raus­schau­ende Pro­gramme sind out. Heu­te ist die rich­tige Person an der Spitze ent­schei­dend für den Erfolg einer Par­tei. Damit sie wendig und handlungsfähig bleibt, werden hehre Ziele häufig durch Prag­matismus ersetzt. Der Preis dafür ist hoch, weil die Wahlbeteiligung dramatisch sinkt. In der Demokratie ist die Mehrheit von wenigen Stimmen auch eine Mehrheit. Doch ist das de­mo­kratisch, wenn die Parteien nur noch einen winzigen Teil der Be­völ­kerung vertreten?

Geht es um Mehrheiten und Erfolg, scheint sich die kapitalistische Wirtschaft selbst besser zu kontrollieren, als es der Politik gelingt. Noch einmal Ste­ve Jobs: »Wir versuchen, großarti­ge Pro­dukte zu entwickeln, und wir haben die Courage, Dinge wegzulassen, die hierbei im Weg stehen. Dafür ernten wir oft Kritik, aber am Ende bezah­len uns die Kunden für diesen Ent­schei­dungswillen. Lagen wir richtig, kaufen sie, lagen wir falsch, nicht. So regelt sich das ganz von selbst.«

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