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Die Kunst zeigt, wie erfrischend Fehler sein können

Erlers Thema: Alle vier Wochen finden in Hamburg die Creative Mornings statt. Das Junimotto war »Brüche« und zu Gast der Deichtorhallen-Intendant Dr. Dirk Luckow. Was das mit Design zu tun hat …

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© Mitja Schneehage

Als Prince Roger Nelson gestorben war, beschrieb der Münchner Musikproduzent Mathias Modica, wie er einmal das Geheimnis seines Idols entdeckt hatte. Prince spielte nämlich auf eine nur ihm eigene Weise vor dem Takt, kaum bemerkbar, aber so genial, dass es anders klang. So hatte Prince den Funk neu erfunden – indem er ihn brach.

»Gebrochen« – das klingt erst mal nach »verletzt«, »beschädigt«, »kaputt«. Brüche versuchen wir zu vermeiden und zu verstecken. Eine Regel in der Welt der Manager lautet: »Never explain, never complain!« Wenn du einen Fehler gemacht hast: Niemals rechtfertigen, niemals jammern.

»Brüche sind tabu«, meint auch der Kunsthistoriker Dirk Luckow, Leiter der Hamburger Deichtorhallen, eines der großen europäischen Ausstellungshäuser für Fotografie und zeitgenössische Kunst. »Über Brüche spricht man zurückgezogen mit seinem Therapeuten oder Freund. Für die Kunst sind sie jedoch ein Motor. Sie bieten die Möglichkeit, essenziell auf das Leben zu schauen. Der Künstler nutzt die Sensibilität des Gebrochenseins. Das fasziniert den Betrachter. Der Künstler leidet auch für uns.«

Man muss das eigene Leid ja nicht gleich zum Zentrum seiner Arbeit machen, wie der dänische Künstler Jeppe Hein, der seine Depressionen in dem Buch »The Happiness of Burnout« aufschreiben ließ. Aber ist die Alternative zum Fehler wirklich nur Perfektion? Das Beispiel von Prince zeigt doch, dass erst der Bruch seine Musik so großartig gemacht hat.

Der in Berlin lebende koreanische Philosoph Byung-Chul Han analysiert in seinem Buch »Die Errettung des Schönen« den modernen Fetisch des Perfekten. »Die Welt des Glatten ist eine Welt des Kulinarischen, eine Welt reiner Positivität, in der es keinen Schmerz, keine Verletzung, keine Schuld gibt«, erklärt er. »Die heutige Positivgesellschaft baut immer mehr die Negativität der Verletzung ab. Gemieden wird jeder hohe Einsatz, der zu Verletzungen führen würde.« Aber: »Ohne Verletzungen gibt es keine Wahrheit, ja nicht einmal Wahrnehmen.«

Die Kunst zeigt, wie erfrischend Fehler sein können

Auch in der Markengestaltung sind Fehler nicht gerade populär. Die von Designern als chromglänzende Kathedralen inszenierten Autosalons zum Beispiel spiegeln über die Makel einer Industrie hinweg, die das Wort »Schuld« selbst dann noch zu vermeiden sucht, wenn diese längst bewiesen ist. Und der Fall VW steht stellvertretend für den steten Versuch perfekter Illusionen, die auch das Design so brillant beherrscht, um die Welt mit einer glänzenden Oberfläche zu lackieren.

Da mutet es fast märchenhaft an, dass in den 1990er Jahren der damalige Volvo-Chef Sören Gyll laut überlegte, Autos wieder unsicherer zu bauen, um das Fahren sicherer zu machen. Seine schlaue Idee: Wenn sich der Mensch seiner Verletzlichkeit bewusst sei, würde er vorsichtiger lenken. Man stelle sich diesen Vorschlag heute aus dem Mund von VW-CEO Matthias Müller vor. Doch im Wettbewerb der Perfekten werden dreckige oder zweifelnde Thesen unmöglich.

Die Frage ist doch aber, was passiert, wenn ständig verbesserte Standards unsere Erwartungshaltungen ins Unerfüllbare steigern. Längst ärgern wir uns täglich genau darüber. Das Problem scheint kaum lösbar, weil es systemisch ist. Interessant ist trotzdem, was sein wird, wenn wir die von Byung-Chul Han so treffend analysierte »Positivgesellschaft« nicht mehr ertragen. Wie verändern sich dann Marken? Und wie das Design? Die Kunst zeigt schon mal, wie erfrischend Fehler sein können.

Und das nehme ich mit von Dirk Luckow: Nichts berührt Menschen mehr als der menschliche Makel.

PS: Der Künstler Jeff Koons ist der Papst des Polierten – und entzieht sich damit jeder Deutung. Auf die Frage, was der Betrachter sich denn denken solle, wenn er seine Chromskulpturen anschaue, antwortete Koons: »Nichts. Nur ein simples ›Wow‹!«

Hier sehen Sie das Video:

 

Erler

Johannes Erler ist Partner des Designbüros ErlerSkibbeTönsmann, das die Creative Mornings im Hamburger designxport veranstaltet, und Mitbegründer des Designkollektivs Süpergrüp.

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